Auch Zusehen tötet

Rojava Ob durch Waffenlieferungen, den Flüchtlingsdeal oder die NATO: Deutschland ist längst am Kriegsgeschehen beteiligt. Die Frage ist nur: Auf welcher Seite will man stehen?
Tausende Kurden sind auf der Flucht vor den türkischen Bombardements
Tausende Kurden sind auf der Flucht vor den türkischen Bombardements

Foto: Byron Smith/Getty Images

Als klar war, die USA würden ihre Truppen abziehen, habe ich einen offenen Brief verfasst: #wirallesagennein. Es war wenige Stunden, bevor die Türkei ihren völkerrechtswidrigen Angriffskrieg begann. Die Folgen waren bereits abzusehen. 18 Monate zuvor war die türkische Armee mit ihren islamistischen Söldnern im kurdischen Afrîn, in Syrien einmarschiert, verübte dort Kriegsverbrechen, mehr als 100 000 Menschen wurden vertrieben. Im Brief forderten wir – Schriftstellerinnen, Journalistinnen, Politikerinnen –: „Ein zweites Afrîn darf es nicht geben.“ Also eine „friedliche diplomatische Lösung.“

Jetzt aber ist eingetreten, wovor wir gewarnt hatten: eine humanitäre Katastrophe, über 300.000 Menschen auf der Flucht. Wir wissen von Hinrichtungen, wie beispielsweise der Politikerin Havrin Khalaf; von zahlreichen IS-Gefangenen, die durch gezielte Raketenbeschüsse aus den Gefängnissen freigebombt werden; Bomben wurden auf Zivilist*innen abgeworfen. Gerade prüft die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW), ob auch chemische Waffen zum Einsatz kamen.

In dieser Situation schlug Annegret Kramp-Karrenbauer vor, eine international bewachte Sicherheitszone zu errichten. Wie die aussehen könnte, ist noch nicht klar. Darüber ließe sich ja diskutieren: Eine Flugverbotszone könnte durchgesetzt werden – die Türkei bombardiert ja Konvois von Flüchtlingen, Wohnviertel und verwendet verbotene Chemiewaffen. Zudem könnten internationale Bodentruppen die Bevölkerung in Rojava vor der türkischen Armee, islamistischen Milizen und einer Umsiedlung in Rojava schützen. Auch die Bundeswehr könnte daran beteiligt sein. Selbst wenn es paradox klingt, eine militärische Lösung, wie von Annegret Kramp-Karrenbauer gefordert, könnte Menschenleben retten.

Stattdessen wird darüber diskutiert, wie Kramp-Karrenbauer ihren Vorschlag mit der Koalition abgestimmt hat. Und: ob sich Deutschland in diesen Krieg einmischen sollte.

Deutschlands Türkeipolitik hat versagt

Die Frage, ob sich Deutschland aus diesem Krieg raushalten sollte, stellt sich jedoch nicht mehr. Deutschland ist längst in diesen Krieg involviert: durch Waffenlieferungen, durch den Flüchtlingsdeal mit der Türkei – dadurch, dass die Türkei Deutschlands Nato-Partner ist. Die eigentliche Frage lautet also: Wie positioniert sich Deutschland? Auf welcher Seite steht man? Auf der Seite des türkischen Präsidenten Erdogan und seinen islamistischen Brigaden? Auf der Seite von Kriegsverbrechen und Völkerrechtsverletzung – wie bisher?

Erdogan hat den Krieg begonnen und somit Tatsachen geschaffen. Deutschland hat in seiner Türkeipolitik versagt. Deutschland hätte schon viel früher – allerspätestens nach dem Einmarsch in Afrîn – diplomatischen und politischen Druck ausüben müssen. Jetzt bleibt nur die Möglichkeit, zu reagieren, um weitere Katastrophen zu verhindern.

Es ist schon der dritte völkerrechtswidrige Einmarsch in Syrien. Und Erdogan spricht schon lange davon, eines Tages auch in Shingal, dem Hauptsiedlungsgebiet der Ezîd*innen im Irak, einzumarschieren. Der türkische Präsident hat in der Türkei einen autoritären Staat aufgebaut, inklusive Gleichschaltung der Medien, Verhaftungen von politischen Gegner*innen, Kriegspropaganda auf dem Fußballfeld und sogar bei Turkish Airlines. Er exportiert seine autoritäre Ideologie ebenfalls ins Ausland – über Moscheen, Medienkanäle und und und. Seine Kriegspolitik tötet. In erster Linie sind die Menschen in Rojava davon betroffen, besonders die Minderheiten. Aber bedroht ist auch Europa. Etwa wenn sich der IS durch die freigebombten Kämpfer neu formiert.

Auch Zusehen tötet. Und auch das ausbleibende Eingreifen, wenn kurdische Gebiete bombardiert werden, damit Kurden fliehen und andere syrische Bevölkerungsgruppen angesiedelt werden können – manche sprechen von „ethnischer Säuberung“ –, ist eine Positionierung.

Ronya Othmann ist freie Journalistin und Schriftstellerin

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