Nicht erst seit der Himmelsscheibe von Nebra rühmt sich Sachsen-Anhalt, die eigentliche Kernlandschaft deutscher Geschichte zu sein. Nirgendwo drängen sich Kaiserpfalzen, Stiftsdome, Bauernkriegs- und Lutherstätten dichter als zwischen Elbe, Saale, Kyffhäuser und Harz, wo Dörfer sich schämen müssen, wenn ihre Kirche jünger als tausend Jahre ist. In so historiensatter Gegend soll natürlich auch ein Landesmuseum seinen Ort zwischen alten Gemäuern finden dürfen - und sei sein Sammlungsschwerpunkt noch so fulminant auf Gegenwart und die Moderne des 20. Jahrhunderts gerichtet.
Halle an der Saale war kurz vor dem Ersten Weltkrieg zu den bedeutenden Kunstzentren Deutschlands aufgestiegen, man verglich sich mit Folkwang in Essen, mit Darmstadt
Darmstadt, München, Berlin. Seit 1904 in der Moritzburg das städtische Museum eröffnete, standen hier Expressionisten, später Bauhauskünstler hoch im Kurs. Der Erwerb von Emil Noldes Abendmahl führte 1913 zum großen deutschen Museumsstreit, unbeirrt davon wurden weiterhin Munch, Beckmann, "Brücke" und "Blauer Reiter" gesammelt, El Lissitzky, Kandinsky und Klee angekauft. Lyonel Feininger durfte mehrere Monate im Hause arbeiten. Ein Ort ehrgeiziger Avantgardepflege also, dem man allerdings seine Schätze kaum zutrauen mochte. Denn die hielten sich unter treudeutscher Romantik verschanzt.Die Moritzburg war eben nie nur Kunstmuseum. Das Steilufer der Saale hoch überragend, war sie immer auch prominentes Baudenkmal. Die malerischen Reste der im 16. Jahrhundert errichteten Residenz des Fürstkardinals Albrecht, im Dreißigjährigen Krieg verwüstet und danach nur noch sporadisch und profan genutzt, hatten schon zum Ende des 19. Jahrhunderts die Umbauarchitekten dazu verführt, sich einem "gefühlten Mittelalter" mit einigen echten Spolien und sonst viel Kulissenzauber atmosphärisch zu nähern. Wer das alte Museum kannte und sich in dessen Gemächern oft genug verirrte, der weiß, dass solch hemmungsloser Historismus dem Ausstellungsgeschäft eher abträglich war. Selbst die in der Ruine des Westflügels unter freiem Himmel ausgestellten Skulpturen sahen wahre Kunstfreunde nur mit gemischten Gefühlen. Nun trat im Jahr 2000 ein Glücksfall ein: Dem seit DDR-Zeiten nur zu Teilen bespielten Museumskomplex wurde mit der Sammlung Gerlinger eine der wertvollsten Kollektionen expressionistischer Malerei angeboten. Die Bedingung des Leihgebers - erweiterte Ausstellungsflächen und zeitgemäße Standards der Präsentation - verschaffte den nötigen Rückenwind zu einem Kraftakt wie aus besseren Tagen. Mit einem durchgreifenden Um- und Ausbau der historischen Burganlage leistete sich Sachsen-Anhalt praktisch ein neues Landesmuseum. Und nicht anders als vor hundert Jahren war das Projekt des zeitgenössischen Kunsthauses mit zwei übermächtigen Bilderwartungen in Einklang bringen - mit dem romantischen Typus "Burg" und mit dem inzwischen nicht minder attraktiven Sujet der "Ruine". Fuensanta Nieto und Enrique Sobejano, die spanischen Gewinner des internationalen Architekturwettbewerbs, haben sich dem Zeitgeist gebeugt. Doch statt nach historisierenden Kulissen ruft der heute nach Authentizität. Genius loci, Spurensuche, historische Schichten markieren! Und unübersehbar hebe das Neue sich vom Alten ab! Wohldosiert, so haben es Altmeister wie Carlo Scarpa oder Karljosef Schattner vorgeführt, kann solche Kunst intelligenter Konfrontation zum Dialog der Epochen und Stile führen. Wird dabei aber zu dick aufgetragen, verkommen historische Relikte leicht zur Staffage: Wie bei der neuen Moritzburg das eigenwillig geformte Dach nun über den pittoresken Mauerresten thront, nimmt zumindest im Innenhof den ehrwürdigen Steinfassaden einiges an Glaubwürdigkeit. Dabei kann man sich lebhaft vorstellen, wie die Denkmalpfleger den Architekten keine Sekunde von den Fersen wichen. Gemeinsam haben sie soviel Kraft in das Vorführen historischer Materialien und Baudetails gesteckt, dass es für ein eigenes konservatorisches Erzählprogramm reicht. Hier unverputzte, da geschlämmte Innenwände sollen an die Vielzahl zwischenzeitlicher Nutzungen erinnern. Kaum hat man sich im Gerlinger-Saal dem Farbrausch der Brücke-Künstler ergeben, wird man von einer archäologischen Sensation - Europas ältester steinerner Innentreppe - buchstäblich auf Abwege gelockt. Eher symbolisch sollen mit Splitt gefüllte Bodenfugen die reinlichen Ausstellungsflächen von den rauen Bruchsteinmauern abgrenzen, doch das irritierende Nebeneinander von grobklotzigem Mittelalter und urbaner malerischer Eleganz wird dadurch keinesfalls entschärft. In wieweit Werke dieses Anspruchs vielleicht doch besser in neutralerem Rahmen aufgehoben wären, zeigt dagegen der exzellente Auftritt der Nachkriegskunst. Für den ersten Blick befremdlich, haben die Architekten unter das Traggerüst ihrer bewegten Dachlandschaft rätselhafte weiße Boxen abgehängt. Nur in luftiger Höhe über schmale Stege zugänglich, sind darin sehr klare, von oben belichtete White Cubes entstanden, in denen der Betrachter sich völlig unabgelenkt auf die präzisen Konstruktionen Hermann Glöckners, die skurrilen Montagen Willy Wolfs, die melancholischen Halle-Porträts von Helga Paris oder auf Einar Schleefs unter die Haut gehende Klage-Tafeln einlassen kann. Wer jenseits der Moderne-Klassiker nach Wegen und Anschlüssen zur Gegenwart sucht, wird hier mit einem Sammlungsbestand von höchster geistiger Intensität überrascht. Dass aber auch ohne archäologische Inszenierung sich ein "Geist des Ortes" auffinden und mit kunsthistorischer Verve in Szene setzen lässt, beweist schließlich das wahre Alleinstellungsmerkmal des neuen Hauses - jener einmalige Blick hoch oben vom erneuerten Südgiebel über die Innenstadt hinweg. Dort ragen mit Marktkirche, Dom und Rotem Turm genau jene Dächer und Spitzen in den Himmel, die durch Lyonel Feininger einst ikonischen Weltruhm erlangten. Um dieses opulent verglaste Panoramafenster sind ein paar der betreffenden Bilder als Kabinettkollektion gruppiert - das dürfte als Idee völlig ausreichen, um dem neuen Kunst-Ort internationale Aufmerksamkeit zu bescheren. Warum es trotzdem ohne Ritterromantik noch immer nicht zu gehen scheint, wäre wohl am besten mit Umberto Eco zu diskutieren.