Der Wind schlug den Passanten den Nieselregen ins Gesicht; waren sie von Pest nach Buda unterwegs, schlug er sie auf die rechte Gesichtshälfte, ging es von Buda nach Pest, war es die linke Seite, die geohrfeigt wurde.
Es war kein Tag jedenfalls, um auf der Brücke innezuhalten und auf die Donau zu blicken. Die Touristen kniffen die Krägen ihrer Trenchcoats zusammen - schnell auf die andere Seite und ins nächste Kaffeehaus; die Einwohner zeigten dem Wetter die Stirn und gingen stoisch ihren Wegen nach. Für sie war es Alltag, ein Tag, den es zu durchleben galt; für die Touristen ein Tag, der zu genießen war. Ich selbst stand irgendwo dazwischen, als temporäre Einwohnerin der Stadt, die in den nächsten drei Monaten abwechselnd über die Elisabeth
Elisabeth-, Ketten-, Freiheits-, Margaretenbrücke laufen wird.Da sah ich sie. Sie lehnte am Geländer der Margaretenbrücke, mit hochgezogenen Schultern, eingebettetem Hals und einem Kopf, der nach unten gerichtet war. Vielleicht sah ich sie auch nur deshalb, weil ich von ihr aus zum ersten Mal auf die Insel sah, die Margareteninsel, die ganz früher mal ein Kloster, später dann - mit denselben Insassinnen, ein Freudenhaus gewesen sein soll. Die Insel war also nahe und ich beschleunigte meinen Schritt. Dort hielt ich Ausschau nach etwas, das man anschauen konnte, bis ich tatsächlich vor einem musikalischen Springbrunnen ins Stutzen kam. Der nämlich spie seine Wasserfontänen synchron zur Musik ungarischer Sinfonien und Märsche. Zeitgleich zu den dramatischen Stationen der Werke, den traurigen, melancholischen, heiteren, stürmischen und erlösten Momenten, whirlten, rauschten, schossen oder beruhigten sich die Wasserstrahlen im Brunnen, die ähnlich wie die Ballerinas im Ballett aufgestellt waren: zwei Hauptdarsteller wurden von vier Nebendarstellern und die von einem Kreis heiter sprudelnder Fontänchen umwhirlt. Richtig tragisch wurden die kleinen nie, dafür reichte schon allein der Wasserdruck nicht aus - richtig tragisch werden und damit richtig hoch spritzen konnten ausschließlich die beiden Fontänen in der Mitte.Das Tragische blieb den Hehren, das Heitere den Herden vorbehalten. Dennoch gab es etwas, das dem Ganzen etwas Hysterisches, Komisches verlieh, denn die armen Strahlen waren - im Gegensatz zu den musikalischen Werken, nicht in der Lage, die Situationen vorzubereiten, sie konnten sie nur darstellen, und wenn es einen Wechsel von hochtragisch zu tiefversunken gab, klatschte ein letzter tragische Batzen Wasser auf die tief versunkene Ruhe des Adagios.Da war sie wieder, als ich auf die Margaretenbrücke zurückkam. Mit einem Mal wusste ich, dass sie sich umbringen will - und wirklich, im selben Moment setzte sie den Fuß aufs Geländer und stemmte sich hoch. Eine Sekunde lang schien alles wie erstarrt - nur sie allein war in Aktion. Ich lief hin, andere ergriffen ihren Arm, zerrten sie vom Geländer weg - es war nicht schwer, sie loszureißen. Eine Italienerin strich mit beiden Händen über ihr tränenreiches Gesicht und nahm ihren nassen Kopf an ihre Brust. "Ma tu, che fai?! What are you doing!", sprach sie im italienischen English auf sie ein. " I am Giulia! Sono Giulia! Capisci?!" Sie nahm sich das verweinte Gesicht vor "Giulia!, Io sono Giulia! And you?! What is your name?!" Das verweinte Gesicht blickte mit großen Augen zurück. Giulia schaute in die Runde, "Excuse me!", "Are you Hungarian?" "No, sono d´Italia." "And you? Are you Hungarian? "I´m sorry. I´m French." "Please, speak with her, she can´t understand me!" "Sorry, I´m from Scotland." "You?" "Sorry, sono Italiana anch´io." "Madonna! We´re all Italians! Nobody is from here!" Giulia zog ihren Pass und hielt ihn ihr vors Gesicht. "Giulia! Io sono Giulia!" Sie tippte ihr mit dem Zeigefinger gegen die Brust. "And you! Who are you?!" Das Gesicht der Tränenreichen hellte sich ein wenig auf. Sie trug eine dicke Hornbrille, ein leichter Flaum machte sich auf ihrer Oberlippe bemerkbar, Akne verteilte sich unruhig auf ihrem Gesicht und hell rot glänzten ihre Wangen. Sie trug einen alten roten Trainingsanzug, der von der Caritas kommen musste. Möglich, dass sie als leicht behinderter Mensch irgendwo in einer Sozialeinrichtung geführt wurde, oder bei den Eltern wohnte. Sie sah nicht aus wie jemand, der sich im alltäglichen Leben Liebe und Aufmerksamkeit aussuchen konnte."Tell me your name! Who are you?! What is your name?" Giulia klopfte weiter abwechselnd auf ihren Reisepass und gegen ihre Brust. Da! Endlich griff sie in ihre Hosentasche und entnahm ihr ein Kärtchen, vielleicht eine Monatskarte der U-Bahn. "Edith! Si chiama Edith!! Her name is Edith! Edita! Tu sei Edita! Che bel nome! What a nice name! Edith!" Giulias Freude schien grenzenlos. Allen in der Runde, den Franzosen, Schotten, Deutschen, Italienern zeigte sie die U-Bahnkarte von Edith. Die begann zu lachen. Sie lachte und strich sich die Tränen aus den Augen, während sie immer mehr und mehr lachte und immer noch mehr Tränen kamen.
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