In der Nacht auf den 22. Juni 1990 kann Erika Band-Rosenberg kaum schlafen. Als ahnte sie, dass der nächste Tag – ein langer bitterkalter Augenblick im argentinischen Winter – ihr Leben verändern wird. Sie steigt in Buenos Aires in den Zug und fährt 60 Kilometer Richtung Süden nach San Vicente. Dort steht sie nach kurzem Fußweg vor einem ärmlichen, unscheinbaren Haus, es liegt halb versteckt hinter einer Hecke und hat einen Vorgarten voller Katzen. Da öffnet eine kleine Frau mit faltenzerfurchtem Gesicht und lebhaften grünen Augen die Tür. „Kommen Sie nur schnell rein, es ist ja so kalt“, begrüßt Emilie Schindler die jungen Frau, die ihr als Reporterin der Deutschen Welle einen Besuch abstatten will.
„Das mit dem Radioreport war damals meine Ausrede“, erinnert sich Erika Band-Rosenberg 20 Jahre später. Sie habe einfach die Frau kennenlernen wollen, die im Zweiten Weltkrieg gemeinsam mit Oskar Schindler 1.200 Juden das Leben rettete.
Sie fragt Emilie während ihres ersten Gesprächs, wie es möglich war, die Gefahr auszuhalten, dass jemand bei den NS-Behörden herausfand: Ein großer Teil der berühmten Schindler-Liste war gefälscht. Es gab darauf die Namen jüdischer Arbeiter, die Oskar Schindler für seine Emaillefabrik tatsächlich benötigte, aber es waren dort auch Kinder, Frauen und viele Akademiker verzeichnet, die vor der Deportation in ein Lager bewahrt werden sollten. Emilie Schindler blieb damals in der werkseigenen Wohnsiedlung bei den jüdischen Familien im kriegsverwüsteten Deutschland, während ihr Mann oft in Krakau zu tun hatte. Sie musste die wichtigen Entscheidungen allein treffen. Trotzdem wurde Oskar – nicht Emilie – 1993 durch den Spielberg-Film Schindlers Liste weltberühmt.
Erika Band-Rosenberg hat die alte Dame nach dieser ersten Begegnung im Juni 1990 regelmäßig besucht. Jeden Samstag, elf Jahre lang, bis zu Emilies Tod. „Ich hatte damals gerade meine Mutter verloren und fühlte mich sehr einsam – und Emilie hatte nie Kinder. Wir waren wie Mutter und Tochter.” Manchmal sprachen sie über ganz alltägliche Sachen, meistens lief ein Tonband mit, und irgendwann war Erika Band-Rosenberg soweit, dass sie an einer Biografie über Emilie Schindler zu arbeiten begann.
Keine Blumen, keine Bilder
Die beiden Frauen teilten die tiefe Sehnsucht nach der alten Heimat. „Emilies Haus war so, wie Bertolt Brecht die Häuser von Emigranten beschrieben hat: ‚Sie kaufen keine Blumen, sie hängen keine Bilder auf, denn sie haben immer das Gefühl, sie könnten jederzeit aufbrechen an einen anderen Ort‘. “ Erika Band-Rosenberg kann das nachfühlen. Dabei ist sie in Argentinien geboren und aufgewachsen. In ihrem Licht durchfluteten Apartment im Park- und Alleen-Viertel Palermo stehen Ficus-Topfpflanzen zwischen Klavier und Bücherschränken, und drei schwarze Pudel streichen um die Tischbeine. Man sieht ihr das Fernweh nicht an, doch sie sagt von sich, sie habe nie eine wirkliche Heimat gespürt. Oft packe sie die Sehnsucht „nach der deutschen Art, Kartoffeln zu kochen oder Salat zu waschen, und nach sauren Gurken”. Sie fühle sich oft so, als wäre sie in Buenos Aires nur auf der Durchreise. Wenn sie heute als Schindler-Expertin zu einer Vortragsreise oder zur Eröffnung einer ihrer Wanderausstellungen über die Schindlers nach Berlin fahre, glaube sie, dort mehr zu Hause zu sein als in Buenos Aires, wo sie mit ihrem argentinischen Mann José ein Leben lang gewohnt habe. Für die Argentinier bleibe sie eine Deutsch-Jüdin – für die Deutschen eine Argentinierin. Dass sie 1990 begonnen habe, über deutsche Einwanderer in Argentinien zu recherchieren, das erkläre sich aus der geteilten Erfahrung von Heimatlosigkeit.
Die Lebensgeschichte der Familie Rosenberg erinnert an die Tragik vieler Schicksale jüdischer Auswanderer. Kaum irgendein Geschichtsbuch kann über erzwungene Emigration anschaulicher erzählen. Erika Band-Rosenbergs Eltern waren noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges aus Deutschland geflohen. Nur zwei lateinamerikanische Länder – die Dominikanische Republik und Paraguay – nahmen damals deutsche Juden auf. Die argentinische Regierung kollaborierte mit Hitler und erklärte alle Feinde Deutschlands zu Feinden Argentiniens.
„Wir gingen deshalb nach Paraguay, aber dort mussten die Emigranten als Bauern arbeiten. Nun war aber mein Vater Jurist, er wollte nicht auf diese Weise ganz neu anfangen müssen”. Also reiste die Familie illegal in Argentinien ein, wo Erikas Vater bei der englischen Zeitung The Standard Arbeit fand. Am 1. September 1939, als in Europa der Krieg ausbrach, rief ihn der Chefredakteur in sein Büro. „Sie sind Deutscher, und Deutschland hat heute England den Krieg erklärt. Sie sind jetzt ein Feind!” Er musste seinen Schreibtisch räumen. Vor seiner Einreise nach Argentinien war er diskriminiert worden, obwohl er deutsch war, nun, als die argentinische Regierung sich gegen Deutschland wandte, verlor er gerade deswegen seine Stelle.
Interesse am Vermächtnis
Was ihm blieb, war der Verkauf von Schokolade vor einem Kino und später von Obst, das er auf einem Straßenkarren durch Buenos Aires schob. Eines Tages war es mit der Anstrengung zu viel, er erlitt einen Herzinfarkt und starb neben seinem Wagen. „Er starb direkt vor einer jüdischen Klinik, doch weil er arm aussah, half ihm niemand. Er war Jude, aber die Juden ließen ihn sterben.“ Diese Tragik habe in ihr, erzählt Erika Band-Rosenberg, ein tiefes Empfinden für Zivilcourage ausgelöst und später dann ihr Interesse am Vermächtnis der Schindlers geweckt.
„In meinem Elternhaus wurde über die dunklen Jahre der Emigration nicht gesprochen. Es gab bei uns nur ein Deutschland vor 1933 und eines nach 1945.“ Erika Band-Rosenberg brach mit diesem Schweigen, wurde Historikerin, unterrichtete an der Diplomatenschule des Auswärtigen Amtes und lehrte Deutsch an der Universidad Católica und am Goethe-Institut. Sie habe sich niemals nur als Pädagogin, sondern Anwältin einer kritischen Erinnerungskultur empfunden, und ihre Schüler ermutigt, sich auch mit den finsteren Jahren in ihrem Land zu beschäftigen, der Obristen-Diktatur, wie sie Argentinien zwischen 1976 und 1983 ertragen musste, als fast 30.000 Menschen spurlos verschwanden. Diesen Schatten der nationalen Vergangenheit entrinne die offizielle Geschichtsschreibung auffallend und häufig, vieles werde nur oberflächlich behandelt.
Über eine andere Periode in der Rosenbergschen Familienchronik sprachen die Eltern offen und mit Stolz: Heinrich Band, ein Cousin von Erikas Großvater, baute Mitte des 19. Jahrhunderts in Krefeld ein kleines, handliches Reise-Schifferklavier. Die Emigranten nahmen es gern mit beim Abschied ohne Wiederkehr, unterwegs ins paraguayische oder argentinische Exil, wo das so genannte Bandoneon schnell zum wichtigsten Tango-Musikinstrument avancierte. Band-Rosenberg gesteht, sie möge den Tango nicht, auch könne sie sich des Eindrucks kaum erwehren – das Bandoneon habe die Flucht ihrer Familie nach Buenos Aires vorweg genommen, als habe es sich um einen Akt der Vorsehung gehandelt, der nicht zu entkommen war
Die berühmte Schindler-Liste war bisher im Besitz des New Yorkers Garry Zimmet, der sie im Frühjahr zum Verkauf freigegeben hat. Erika Band-Rosenberg , deren Lebenswerk darin besteht, Zeitzeugen und Zeitzeugnisse vor dem Vergessen zu bewahren, fürchtet, dass sie auch künftig der Öffentlichkeit verschlossen bleibt: Ein Museum dürfte Schwierigkeiten haben, die geforderte Mindestsumme von 1,6 Millionen Dollar aufzubringen. Doch „die Liste muss ins Museum. Sie muss gesehen werden, damit sie nicht vergessen wird. Wenn wir nicht wissen, woher wir kommen, wissen wir auch nicht, wohin wir gehen.“
Friederike Rüll ist freie Autorin in Buenos Aires. Von September bis Dezember 2010 ist Frau Band-Rosenberg auf Vortragsreise in Deutschland: rosenbergerika.blogspot.com
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