Auf der Schmelz

Politik Die Spitzenkandidaten Martin Schulz und Jean-Claude Juncker kommen aus Gegenden, in denen Zauberkünste etwas galten
Ausgabe 20/2014

Man erlebt zarte Gehversuche in europäischer Demokratie. Für die EU-Wahl wurden erstmals gesamteuropäische Kandidaten aufgestellt, die Kommissionspräsident werden könnten, wenn ihre Parteienfamilie gewinnt. Ich suchte nach den Wurzeln der Kandidaten und gestehe gern, dass mich diese Orte der Kindheit wenig interessiert hätten, wäre mir nicht eine merkwürdige Information zugegangen: Die Männer aus dem Geburtsort des sozialdemokratischen Bewerbers waren früher als Hexenmeister – ja, Werwölfe – verschrien.

Martin Schulz fuhr bei der EU-Wahl 2009 die vielleicht blutigste Niederlage in der Geschichte für die SPD ein, nichtsdestotrotz gingen Gerüchte über einen baldigen Aufstieg des Verlierers um. Ich stellte an das Büro des damaligen Fraktionschefs die Anfrage: „Sollte Schulz in zweieinhalb Jahren zum Parlamentspräsidenten gewählt werden, wäre das nicht ein Hinweis auf seine Hexenkünste?“ Ich bekam keine Antwort, Schulz bekam das Amt.

Schulz und Jean-Claude Juncker haben viel gemein. Ihre Geburtsorte liegen nur 160 Kilometer auseinander, sind katholisch und hocken inmitten der aufgewühlten Erde von Bergbaurevieren. Der Christdemokrat Juncker wuchs im industriellen Süden Luxemburgs auf, in Beles. Von der „Cité“, einer Arbeitersiedlung aus einstöckigen Mehrfamilienhäusern, blickten die Junckers auf das Stahlwerk, in dem der Vater arbeitete. Es ist geschlossen, hineingesetzt wurde der Sichtbetonfuturismus einer Universität. Eine Straße in der Cité ist nach Salvador Allende benannt, die Robert-Schuman-Straße ist eine Sackgasse.

Zunächst sehe ich nur Afrikaner. Aus dem ganzen Großherzogtum strömen portugiesischsprachige Kapverdier zu einem Bankett ins Poarhaus, bewacht von einer an die Fassade betonierten Muttergottes. Sie kennen „Schünckér“ nur aus dem Fernsehen. Dafür schätzt ihn die ältere Luxemburgerin nebenan: „Für uns ist er Jean-Claude, er ist typisch Minette-Region und sagt, was er sich denkt.“ Sie spricht Deutsch mit leicht französischem Akzent wie „Jean-Claude“. Die christliche Gewerkschaft, in der Junckers Vater „auf der Schmelz“ aktiv war, sei immer noch stark. Ich frage sie nach einer Beleser Entsprechung zur Hexerei in der Gegend des Gegenkandidaten. Sie nennt mir das „Burschbrennen“, das Abfackeln eines Kreuzes zur Fastnacht.

Ich halte noch in der portugiesischen Bar Chez Alexandra, benannt nach der beliebten Ex des Inhabers, auch wenn inzwischen die Neue ausschenkt. Ich will nur rasch die in einem Keramikgestell flambierte Wurst verzehren, scharf, verkohlt und portugiesisch, da nageln mir die Luxemburger Stammgäste ein Gespräch ans Knie. Ob ich „Jean-Claude“ gut finde, diesen Pfaffenfritzen? Mein Gottesbeweis fällt hilflos aus, ich frage etwas anderes: Warum reüssieren in Ländern mit zehn Prozent Ausländeranteil Rechtspopulisten, während das zur Hälfte von Zuwanderern bewohnte Luxemburg noch keine solche Partei im Parlament gesehen hat? Ein pensionierter Banker antwortet: „Das macht die Bildung hier. Selbst der Großherzog hat eine kubanische Frau. Das Herrschergeschlecht muss sich mischen – weil sie Bluter sind.“

Ich fahre in den Geburtsort des sozialdemokratischen Kandidaten. Auch Hehlrath, ein Stadtteil von Eschweiler kurz vor Aachen, hat ein portugiesisches Lokal. Dienstags hat im Ŏ Portugues nur die nichtportugiesische Bar auf, und ich komme zu einer ebenso verschworenen wie verwitterten Knobelrunde dazu. Ich versuche es auf die direkte Art: „Darf ich Sie etwas fragen, sind Sie Werwölfe?“ Die Männer blicken kaum vom Knobelbecher auf. Der Älteste nuschelt, dass Hehlrath von einem bedeutenden Mann gegründet worden sei. „War er ein Zaubermeister?“ Der Knobler nickt, „ein Ehrenmann war das“. Alle rauchen immerfort, und wenn mal jemand einen Satz ausbläst, dann kommt es mir so spanisch wie luxemburgisch vor.

Die jungen Männer im Lokal sind gesprächiger. Einige wenige wissen, die Hehlrather sollen früher Nebenbuhlern aus dem Nachbardorf auf den Rücken gesprungen sein und sich wie reißende Wölfe aufgeführt haben. Die Furcht vor Werwölfen sei an der Inde weit verbreitet gewesen. Aber das seien Geschichten aus dem Mittelalter, die nur noch von den Leuten im angrenzenden Stadtteil Kinzweiler verbreitet würden. Das könne daran liegen, dass Kinzweiler viel Zuzug aus abgesiedelten Dörfern gehabt habe, abgesiedelt für die Braunkohle. Aber warum heißt der dienstags geschlossene Dorfwirt dann Hexenhaus? – „Weil wir zu Hause Hexen haben.“

Der erste Versuch einer gesamteuropäischen Wahlkampagne kann uns etwas lehren: Wie in der Schweiz Politiker aus dem zweisprachigen Kanton Freiburg überproportionale Bedeutung haben, ist diese Rolle in der EU auf Luxemburger zugeschnitten. Aber auch der perfekt dreisprachige Juncker erreicht nur 45 Prozent der EU-Wähler in ihrer Umgangssprache. Er versucht es, beackert auch die fernen Inseln der Union. Schulz hingegen tourt fast nur durch Deutschland.

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