Auf der Suche nach dem einen Ton

Lauschangriff Empörung und Begeisterung liegen im Fall von Wayne Shorter nah beieinander: Weil der Saxofonist auf Erwartungen, die das Publikum an ihn haben könnte, pfeift

Da vorne steht er, etwas aus dem Zentrum der Bühne gerückt, aber unübersehbar im Fokus. Mit einer Hand stützt er sich am Flügel ab, hört zu wie Klavier, Bass und Schlagzeug Fahrt aufnehmen, wie seine Band zu einem leichten, tänzelnden Sparring übergeht, bevor die Dynamik anzieht, die Backbeats massiv und fordernd werden, die Spannung steigt. Nun geht er einige zögernde Schritte, leicht tapsig, greift zum Tenorsaxofon, hängt es umständlich in das Halteband, setzt das Mundstück an die Lippen und wartet. Setzt das Saxofon wieder ab, schiebt das Mundstück etwas tiefer auf den Bogen, setzt wieder an, wartet, setzt ab, legt das Instrument ganz zur Seite. Er greift zum Sopransaxofon, setzt an, wartet, wartet noch einen Moment und spielt dann: einen Ton, prägnant und voll, dann einen zweiten. Nichts weiter. Dann wiederholt er die beiden Töne, spielt dazu einen kleinen Kringel als Vorhalt, verschiebt diesen Kringel um eine Winzigkeit, rückt ihn aus der Tonart und kommt wieder auf den ersten Ton zurück und auf den zweiten. Wer nun auf gefällige Melodiebewegungen wartet, auf freundlich swingende Tongirlanden und virtuose Bravourstückchen, auf alles das, was man als Jazz zu identifizieren gewohnt ist, der ist hier im falschen Konzert.

Wayne Shorter ist eine Ikone des aktuellen Jazz, als virtuoser Stilist auf Tenor- und Sopransaxofon wie als eigensinniger Komponist und Impulsgeber mit dem Gespür für die Balance von Konstruktion und Emotion unumstritten – neben Sonny Rollins der einzige Überlebende aus der Reihe der großen Saxofonisten aus der klassischen Moderne des Jazz. Seit er vor gut 50 Jahren an der Seite von Art Blakey einen eigenen Ton in die Musik eingebracht hat und mit der außerordentlichen Klarheit seiner musikalischen Ideen im Miles Davis Quintet zum Radikalen innerhalb der Syntax des Jazz wurde – zu einem der Gegenspieler der Jazzrebellen, die den Free Jazz schufen, um eben jene Syntax zu sprengen –, bezweifelt niemand Shorters Rang in der Jazz-Geschichte. Während er sich damals die Freiheit nahm, eigene Regeln aufzustellen und sie wieder zu brechen, wenn sie sich als wenig ergiebig erwiesen, oder sein Horn schweigen zu lassen, wenn ihm eine Improvisationsidee nicht überzeugend erschien, doziert er heute lieber über Filmmusik und Opernarien als über Blue Notes und Swing. Shorters Bezugsrahmen ist die gesamte Musik.

Beim Auftakt zu seiner Deutschlandtour in Dortmund im letzten Herbst hinterließ Wayne Shorter den Eindruck, als praktiziere er seine Musik als Meditation, als Trip im Dienst einer Reinheit: der Gralsritter auf der Suche nach dem einen entschiedenen und gültigen Ton, der die Energie seiner und damit aller Musik enthält.

Verzierungen, das musikantische Kunsthandwerk, die unverbindlichen, klischeehaften Slalomläufe um wechselnde Harmonien erscheinen in diesem Zusammenhang nur noch als Tand und Blendwerk: weg damit. Kein Wunder, dass Shorter sich derart nicht nur Freunde macht. So geladen wie die Töne, die er schließlich spielt, so angespannt wie seine spartanischen Formulierungen reagiert auch das Publikum. Entweder ist es empört über den Musiker, der auf Publikumserwartungen pfeift und das Spiel mit Spannung und Entspannung verweigert. Oder es erlebt das Konzert als eine Sternstunde, einen dieser Abende, die man nicht wieder vergessen wird.

Footprints Live! 2002, Wayne Shorter, Danilo Perez, John Patitucci, Brian Blade. Alegría 2003 Wayne Shorter, Danilo Perez, John Patitucci, Brian Blade Beyond the Sound Barrier 2005 Wayne Shorter, Danilo Perez, John Patitucci, Brian Blade, alle bei Verve/Universal

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