Stadtführer Sie wollen zum Beispiel die Stadt Den Haag kennenlernen, haben aber keine Lust auf die ausgelatschen Touristenpfade? Dann kann Ihnen das Netzwerk „Greeters“ weiterhelfen
"So stand er!“ Stef de Niet bringt sein Opfer in Position und zieht ihm den Arm zurecht. „Und von hier kam der Mörder angelaufen.“ De Niet springt um den Sockel des mächtigen Denkmals Willem van Oranjes, dessen gewaltsames Ende im Zentrum von Den Haag soeben nachgestellt wird. „Und dann kamen die Kugeln.“ De Niet imitiert ihren Klang, doch das Opfer schaut eher amüsiert. Statt wie der Oranje-Prinz umzufallen, lutscht es an einem Eis.
De Niets Opfer heißt an diesem Nachmittag Rogel Walters, ein Landschaftsarchitekt aus New York, der Urlaub in den Niederlanden macht. Er habe keine besonderen Erwartungen gehabt, als er sich für eine Stadtführung in Den Haag anmeldete, sagt Walters. Reisende erzählten ihm von den Greeters, einem O
s, einem Online-Netzwerk, das bisher in 16 Städten auf drei Kontinenten besteht (globalgreeternetwork.info). 75 weitere Städte wollen demnächst beitreten, darunter Brüssel, Leipzig, Frankfurt und Berlin.Das Besondere: Wer sich bei den Greeters einen Stadtführer sucht, bekommt keinen professionellen Guide, sondern einen Freiwilligen, der ihm kostenlos und völlig subjektiv seine Heimatstadt zeigt. Das Motto der Greeters lautet schlicht „Be My Guest“. Ortskenntnis und Enthusiasmus sind ihr Markenzeichen, ein intensiver Austausch zwischen Einheimischen und Touristen das erhoffte Ergebnis. Reisende füllen online ein Profil aus, der Computer gleicht ihre Interessen mit denen der Freiwilligen ab – und los geht’s.In Den Haag ist dem Computer ein Volltreffer gelungen. Rogel Walters lacht immer wieder herzhaft, wenn sein Gastgeber Anekdoten erzählt. De Niet ist Anfang 60, wirkt in Polo-T-Shirt und Jeans aber jünger. Seine Geburtsstadt liegt ihm am Herzen. „Es ist unmöglich, dir alles zu zeigen. Also zeige ich dir die Orte, die für mich wichtig sind“, sagt er. Rogel erfährt, wer Willem van Oranje war, warum Den Haag der Regierungssitz der Niederlande ist – und dass de Niet mit Orange, der dominierenden Farbe des WM-Sommers, wenig anfangen kann. „Ich bin kein Monarchist.“Abseits ausgelatschter Pfade Der Ansatz der Greeters erinnert an ein altes Backpackers-Motto: Off the beaten track, – abseits der ausgelatschten Touristenpfade soll der Gast Details und Geschichten der Stadt kennenlernen. Die Standard-Sehenswürdigkeiten müssen deswegen nicht auf der Strecke bleiben. Entscheidend ist nur der persönliche Blickwinkel. De Niet, der seit anderthalb Jahren bei den Greeters dabei ist, nimmt diese Vorgabe wörtlich. In beinah akzentlosem Englisch erklärt er seinem Gast das Regierungsviertel, zeigt ihm den Turm des Premiers – und steuert kurz entschlossen die Zweite Kammer des Parlamentes an: „Guten Tag! Ich mache einen Rundgang mit diesem Herrn aus New York. Wir waren gerade in der Nähe, da wollte ich ihm schnell das Parlament zeigen.“ Der amerikanische Gast wundert sich, dass er plötzlich ohne großes Aufheben im Plenarsaal steht, in dem gerade eine Sitzung zu Ende gegangen ist.De Niets eigentliches Ziel ist jedoch ein anderes. „Wir machen eine Rundfahrt“, sagt er. Allerdings nicht mit einem Touri-Bus. Am Rand des Zentrums steht de Niets Auto. Er öffnet die Tür und erklärt mit einem Blick auf die borstigen Haare auf dem Boden entschuldigend: „Ich habe einen Hund.“ Ein Druck auf den Play-Knopf des CD-Spielers: Schostakowitsch. „I’m a jazz guy“, sagt de Niet. Rogel, knapp 20 Jahre jünger als de Niet, mag auch Jazz. Für ihn ist aber New Orleans das musikalische Mekka. Für de Niet sind es New York und Chicago. Während die beiden über ihre Vorlieben fachsimpeln, zieht draußen Den Haag vorbei. De Niet zeigt, was er mag: Schattige Alleen, das Luxushotel, in dem einst Mick Jagger residierte, die Monumente aus der Phase, als die Niederlande keine Monarchie waren. Bei jeder Erklärung bremst er ab. Manchmal kommt das Auto ganz zum Stehen. Von hinten hupt es. De Niet gibt wieder Gas und erzählt, dass er an einem Theaterstück arbeite, in dem er als Spitzenkandidat der republikanischen Partei die niederländischen Wahlen gewinnt.Oft unbekanntere StädteJeder Greeter hat sein persönliches Steckenpferd. In Den Haag sind es 60 Freiwillige im Alter zwischen 20 und 70, die Touristen ihre Stadt näher bringen – auch auf Spanisch, Deutsch oder Chinesisch. Dass Den Haag eine Greeters-Pionierstadt ist, ist dabei kein Zufall. Neben Metropolen wie Paris und Buenos Aires sind es oft gerade unbekanntere Städte, die dem Netzwerk angehören. Brighton etwa, Nantes, Adelaide oder Houston: alles Ziele, an denen Touristen sonst gern vorbei fahren.Die Metropole New York hatte in dieser Hinsicht nie etwas zu beweisen. Wohl aber litt sie Anfang der neunziger Jahre unter dem Ruf, schmutzig und gefährlich zu sein. Der Versuch, diesem Image entgegen zu wirken, war 1992 Geburtshelfer der Greeters. Ein paar New Yorker wollten zeigen, dass ihre Stadt besser als ihr Ruf ist und gründeten das Netzwerk.Rogel Walters, der New Yorker in Den Haag, hat mittlerweile einiges über das Leben seines Stadtführers erfahren: Fakten zu Sehenwürdigkeiten und de Niets Biographie überlagern und vermischen sich, als Amalgam dient das Insiderwissen des Niederländers. Vom Friedenspalast geht es zu de Niets Grundschule, die ihn an eine „glückliche Kindheit“ erinnert. Das Rappeln des Autos auf dem Kopfsteinpflaster untermalt Jugendanekdoten – bis ihnen das Jugoslawientribunal ein abruptes Ende bereitet. De Niet, früher Friedensaktivist, erzählt vom Prozess gegen Radovan Karadzič, der im Vorort Scheveningen in seiner Gefängniszelle sitzt. De Niet zeigt auf das Gebäude und erinnert sich gleich darauf an seine erste Ehe, die nur ein paar Straßenecken weiter Schiffbruch erlitt. Schließlich endet die Tour in de Niets Garten. Seine zweite Ehefrau gesellt sich an den Tisch, es gibt Weißwein. Und Rogel Walters ist sich sicher: Er mag Den Haag.
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