Auf ein Neues

Als mich mein Cousin dieses Jahr fragte, wo ich Silvester feiere, entgegnete ich, das könne ich noch nicht sagen, da müsse er sich bis zum Sommer ...

Als mich mein Cousin dieses Jahr fragte, wo ich Silvester feiere, entgegnete ich, das könne ich noch nicht sagen, da müsse er sich bis zum Sommer gedulden. Daran sieht man bereits, wie verschieden hierzulande gewisse gesellschaftliche Höhepunkte gewertet werden. Was meinen Cousin betrifft, so könnte wohl jeden Tag Silvester sein. Jeder Tag ein Fest mit Feuerwerk und Alkohol und fröhlichen Menschen. Ich bin da schon etwas reservierter. Um genau zu sein, finde ich Silvester sogar irgendwie gespenstisch. Da hast du dich übers Jahr fast daran gewöhnt, in einem Land zu leben, wo Fresseziehen als höchste Form der Selbstbeherrschung gilt, und plötzlich jubeln dir wie auf Knopfdruck wildfremde Menschen zu und fallen dir lachend um den Hals. Oder brennen dir ein Loch in die Kapuze. Oder reihern vor dir in den Schnee. Je nach Tagesform.

Glaubt man den Überlieferungen der Alten, so war Silvester ursprünglich dazu gedacht, das vergangene Jahr Revue passieren zu lassen, Erreichtes zu feiern und sich für die Zukunft neue Ziele zu stecken. Im Kern hat sich daran nichts geändert. Nur dass man heute nicht mehr ganz so streng mit sich verfährt. Dafür ist es inzwischen Brauch, sich kollektiv auf jenen Level zu saufen, wo man zum einen fest an den Erfolg im neuen Jahr glaubt und zum anderen die Schmach des Scheiterns im vergangenen kaum noch spürt. Doch ob man Silvester nun liebt oder hasst, das Allerschlimmste, was einem passieren kann, ist wohl, dass man diesen Tag allein verbringen muss. Theoretisch könnte man sich Asche aufs Haupt streuen, man könnte eine Tasse Pfefferminztee trinken, nach der Tagesschau die Ohren verstöpseln und dann husch ins Körbchen. Aber wer bringt schon das nötige Vertrauen auf? Ich meine, Deutsche und Raketen - man weiß doch, wo das hinführt. Und so kommt es, dass man auf Silvesterparties genau zwei Sorten von Menschen trifft: Übergeschnappte Schluckspechte und depressive Existenzialisten. Wobei die Schluckspechte eindeutig besser wegkommen, denn nichts wirft ein ungünstigeres Licht auf die Evolution als ein Depressiver mit einem bunten Papphut. Auf der anderen Seite verfällt ein Depressiver nicht so leicht dem Irrglauben, Silvester wäre vergeigt, wenn man sich nicht pausenlos gebärt wie ein Zirkusclown in der Probezeit. Aber egal, irgendwie muss man miteinander auskommen, denn vor allen personellen Bedenken bleibt es essenziell, dass man ein Dach über dem Kopf hat, wenn der bunte Bürgerkrieg in seine heiße Phase tritt. Da heißt es sorgsam planen, will man nicht zu später Stunde unversehens ein begehrtes Objekt glücks- oder sonst wie taumelnder Pyromantiker werden.

Mein Cousin freilich läuft erst jetzt zu Höchstform auf. Er gehört zu jenen Leuten, die ihr Heim kurz vor Ultimo in eine waffenstarrende Festung verwandeln (Balkon? Balkan? Wo ist da der Unterschied?). Zur Kampagne "Brot statt Böller" meinte er jedenfalls, er halte das für ausgemachten Schwachsinn, wo doch jedermann wisse, dass Brot gar nicht knallt. Und so wird er auch dieses Jahr zuverlässig daran mitwirken, dass der Mitternachtshimmel im knatternden Feuer lichtgewordener Euroscheine erglüht. Wo ich um diese Zeit sein werde, weiß ich immer noch nicht. Ich hoffe doch in Sicherheit. Vielleicht lass ich mir das mit dem Pfefferminztee noch mal durch den Kopf gehen. Oder ich bilde eine Notgemeinschaft mit den Tieren des Waldes. Wahrscheinlich werde ich aber diesen Abend wie immer in geselliger Runde aussitzen und am Ende jenen rätselhaften Zustand erreichen, wo man zugleich betrunken und ernüchtert ist. So als müsse noch etwas kommen. Doch alles was kommt, ist ein neues Jahr.


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