Auf eine neue Stufe der Achtsamkeit

Die Ratgeberin Achtsamkeitstraining ist das neue Yoga. Und auch das muss nicht unbedingt zu mehr Beweglichkeit führen
Ausgabe 12/2015

Gleich am Morgen, noch halb schlafend, starte ich neuerdings mein Achtsamkeitstraining. Als Erster hat das, vor 35 Jahren, der US-amerikanische Arzt und Buddhist Jon Kabat-Zinn empfohlen. Heute empfiehlt das praktisch jeder: Leben entschleunigen, sich im Hier und Jetzt erden. Hallo, wie geht’s meinem kleinen Zeh? (Ahh, was ist das? Schmerz! Einfach geschehen lassen.) Was macht die Ferse? (Nicht ganz so schlimm.) Meine Gedanken streicheln am Bein entlang (wobei ich heute laut aufschreie). Unter Stöhnen richte ich mich auf, Quatsch, stimmt gar nicht: Unter Stöhnen bleibe ich liegen. Weil: Hexenschuss! Was für eine Chance! Denn: „Vor allem in unangenehmen Momenten achtsam zu sein, das stärkt die Psyche“, sagt der Psychiater Michael Huppertz.

Gerade der Hexenschuss kann mich auf eine neue Stufe der Achtsamkeit heben, überlege ich, festzementiert auf meiner Matratze. Gut, in den Achtsamkeitsanleitungen geht es meist um Liebkosungen des Windes, um zärtliches Tätscheln von Seide auf der Haut oder um duftende Maiglöckchen. Aber das ist Zufall. Die Achtsamkeitsexperten leben halt in einem Seidenstoff- und Maiglöckchenumfeld, ich dagegen in einem Kaktusumfeld. Und jetzt leuchtet auch noch mein Smartphone auf. Gleich wird, ganz leise, Regen, gemischt mit sphärischen Klängen, erklingen: der intelligente Alarm „Sommerregen“. Normalerweise bin ich schnell genug, das Ding vorher auszuschalten. Aber heute? Schon klar. Platt liege ich da und übe, das immer lauter werdende Sommerregengewaber zu ertragen. Erst letzte Woche habe ich gelesen: Man soll auch mal achtsam Musik hören, die einem gar nicht gefällt. Wie klingt das Katzengejammer? Was macht es mit einem? Und: Lässt sich das Konzept noch erweitern? Auf Gerüche etwa? Der Mülleimer in der Küche müffelt ja ziemlich. An dem will jetzt ich mal schnuppern. Unter dem immer lauter dudelnden Sommerregen rolle ich – ächzend und stöhnend – ausdem Bett und robbe auf dem Fußboden hin zur Küche.

Angeregt verfolge ich das Auf- und Abschwellen des Hexenschussschmerzes, während ich mich über die Türschwelle schiebe. Schon betätige ich mit dem Kinn den Tritt des Mülleimers, dessen geriffeltes Fußpedal sich in meine Haut am Kinn gräbt. Ich frohlocke, dass der Treteimer bereits so weit kaputt ist, dass er nicht mehr von selbst zuklappt, lasse aber das Frohlocken einfach weiterziehen. Über mir lockt die Gestankswolke. Ich stemme mich hoch und nehme sie ganz in mir auf: vergammelte Bananen, gemischt mit vor sich hin faulenden Fischresten, Käserinden, Knoblauchschalen, Kaffeesatz ist auch dabei. Hartnäckig versuche ich, selbstbeweihräuchernde Gedanken wie „Das ist das wahre Achtsamkeitstraining, das hat noch keiner vor mir gewagt“ einfach nur geschehen zu lassen, ohne mich hineinzusteigern.

Schließlich habe ich mit dem Erspüren meines Körpers schon genug zu tun: Mein Magen scheint sich gerade umzustülpen, etwas steigt die Speiseröhre hoch. Gleichzeitig stechen auf interessante Weise einige imaginäre Silberdolche in meinen Rücken, ich schreie kurz auf, dann fühle ich schnell noch das herzhafte Pochen im linken Oberschenkel, darf aber auch den linken Zeh nicht vergessen, der kribbelt eingeschlafen. Jetzt noch rasch diesen schrillen Folterweckeralarm erlauschen, der kommt, wenn man den Wellnessalarm ignoriert, bevor eine weitere akustische Sensation mich rausreißt: „Was machst du denn da?“, schallt es von der Küchentür. „Ich, öhm, ich, ich, ich ... arbeite“, sage ich aus Versehen und erkenne augenblicklich: arbeiten? Das ist es! Einfach mal abschalten vom hektischen Hier und Jetzt meiner Körperempfindungen. To-do-Liste rausziehen und, einen Punkt nach dem anderen, abarbeiten. Punkt eins: Hexenschussgegenmaßnahmen googeln. Total entspannend!

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