"Ihr habt Bolivien zerstört. Das Volk hat euch zurückgewiesen. Zieht euch leise von der politischen Bühne zurück. Niemand will euch dort. Schaufelt euer Grab und wartet dort auf euren Tod". Derart wutentbrannt wandte sich jüngst Antonio Peredo Leigue gegen die 2005 abgewählte politische Klasse Boliviens. Peredo Leigue gründete einst den Partido Comunista Boliviano (PCB) mit und zählt jetzt zu den einflussreichsten Beratern an der Seite von Evo Morales. Seine Entrüstung galt einer Verleumdungskampagne der neoliberalen Oppositionsparteien Podemos und Nationale Einheit. Die wollten mit großem medialen Aufwand die Regierungspartei Bewegung zum Sozialismus (MAS) des "Vaterlandsverrates" überführen: Wer sich außenpolitisch Venezuel
ch außenpolitisch Venezuela und Kuba annähere, gebe die nationale Eigenständigkeit preis, hieß es. Selbst in Nordamerika und Europa ausgebildet, können die alten Eliten eine Distanzierung von den USA nicht akzeptieren.Rhetorische Konfrontationen dieser Art (und Güte) haben während der vergangenen Wochen einen Wahlkampf geprägt, der auf die Abstimmung über eine Verfassunggebende Versammlung am 2. Juli einstimmte. Dieses Gremium soll bekanntlich den von Evo Morales erstrebten sozialen Wandel auch konstitutionell abfedern - und seine Zusammensetzung lässt erwarten, dass es so sein wird. Parallelen zur Amtsführung von Hugo Chávez in Venezuela sind nicht zu übersehen. Dort war gleichfalls wenige Monate nach dessen erster Wahl zum Staatschef Ende 1998 durch ein Votum der Wähler über eine Verfassunggebende Versammlung entschieden und im Dezember 1999 per Referendum (71,2 Prozent Ja-Stimmen) deren "Verfassungsentwurf für eine Bolivarianische Republik Venezuela" bestätigt worden.Eine neue Magna ChartaMorales´ Triumph bei den Präsidentenwahlen im Dezember 2005 gründete vorzugsweise auf drei Versprechen: Die Bodenschätze sollten verstaatlicht, eine Agrarreform erlassen und eine neue Verfassung erarbeitet werden. Bislang steht der Präsident zu seinem Wort und erreicht in Umfragen folgerichtig eine Rekordzustimmung von 83 Prozent. Lobend äußert sich auch der prominente Globalisierungskritiker Joseph E. Stiglitz, ehemals Chef-Ökonom der Weltbank: Bolivien könne sich glücklich schätzen über ein Staatsoberhaupt, das "demokratisch gewählt wurde und versucht, die Interessen der Armen zu vertreten".Mit der Verfassunggebenden Versammlung will dieser Präsident nach seinen eigenen Worten die "neoliberalen Gesetze auf einen Schlag ändern". Nach Auffassung des MAS sei nach den sozialen Kämpfen der vergangenen 16 Jahre eine neue Magna Charta unumgänglich. Sie soll, so die Partei des Präsidenten, "dem wahren Eigentümer des Landes", der Bevölkerung, zur Macht verhelfen. Daher gelte es, "alle Formen des Kolonialismus, der Ausgrenzung und Diskriminierung" abzuschaffen. Die drei Gewalten seien "durch universales Wahlrecht sowie traditionelle kommunitäre Formen der Entscheidungsfindung und Wahl" zu besetzen - dies greift Forderungen der indigenen Bewegungen nach alternativen Formen der politischen Partizipation auf. Weiterhin sollen Bodenrecht und Bodenschätze auf das Allgemeinwohl verpflichtet, soll die Kokapflanze staatlich geschützt werden. Das Recht auf Privateigentum will der MAS an die Bedingung knüpfen, dass es einer nachhaltigen Entwicklung dient. Außerdem sollen der Präsident und sein Stellvertreter künftig per Volksentscheid ihrer Ämter enthoben werden können.Nach den Vorstellungen der Regierung wird die Verfassunggebende Versammlung erstmalig am 6. August in Sucre zusammentreten. Selbstbewusst hatte Evo Morales angekündigt, man werde "nicht mit über 50, sondern mit mindestens 70 Prozent" gewinnen - das vorliegende Ergebnis (55 Prozent für den MAS) hat ihn nur bedingt bestätigt. Für die anvisierte "Neugründung Boliviens" benötigt man eindeutige Stimmverhältnisse: Über einen Verfassungsentwurf kann nur mit Zweidrittelmehrheit entschieden werden. Nach dem Ergebnis vom 2. Juli ist Evo Morales auf Kompromisse mit der Opposition angewiesen.Die ökonomischen Eliten befinden sich dennoch in der Defensive, um so mehr favorisieren sie als Gegenstrategie ein föderales Modell, das den Departamentos stärkere Eigenständigkeit zubilligt. Seine Befürworter preisen es als Schritt zu mehr Demokratie und Dezentralisierung, kaschieren damit aber nur notdürftig die wahren Absichten. Das Komitee Pro Santa Cruz, eine von Geschäftsleuten, Latifundisten und Lokalpolitikern gegründete Allianz macht jedenfalls kein Hehl aus seiner Absicht, Boliviens Osten auf administrativem Wege von den sich abzeichnenden Veränderungen abzuschotten, auch wenn ein erster Versuch mit dem Referendum vom 2. Juli gescheitert ist.Eine letzte GelegenheitDiese Region galt lange als unterentwickelt, prosperiert aber seit einigen Jahren dank ihres Erdgas- und Agrarsektors. Augenblicklich wird versucht, durch spektakuläre Kampagnen in Fernsehen und Feuilleton, den Ostbolivianern so etwas wie eine neue Identität nahe zu legen. Aus dem Norden des Landes Zugewanderte bedrohten den Wohlstand und die "cruceñische Kultur", heißt es. Die "weiße" lokale Oligarchie grenzt sich von allem ab, was aus den westlichen Andengebieten kommt. Dabei werden zusehends aggressivere Töne laut. Agrarverbände drohen mit der Bildung von "Selbstverteidigungsgruppen", sollte der Staat wie angekündigt auch Land verteilen, das sich noch in Privatbesitz befindet. Rubén Costas, Präfekt von Santa Cruz, warnt: "Zwingt uns nicht, das zu verteidigen, was wir mit unserem Blut und Schweiß aufgebaut haben". Das ist mehr als feindselige Rhetorik, wie kürzlich entdeckte Waffenlager bezeugen. Da auch die Landlosenbewegung MST über einen militanten Flügel verfügt, konnte kaum verwundern, dass es bereits zu ersten Plänkeleien kam.Evo Morales zeigt wenig Neigung, den separatistischen Provokationen nachzugeben. Von daher mahnt der Jurist Germán Gutierrez Gantier wohl nicht zu Unrecht, die Verfassunggebende Versammlung sei "eine letzte Gelegenheit für die Bolivianer, ihre Probleme demokratisch zu lösen".