Am 29. Januar 1976 druckte Günther Rühle in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung das Berufsverbot-Gedicht von Alfred Andersch ungefragt ab und kommentierte es bösartig. In seiner Erwiderung schrieb Andersch, "die Fassade der FAZ, die demokratische Steinmaske dieses Zeughauses rechts gerichteter Politik." In den vergangenen Wochen nach der Bundestagswahl hat dieses Zeughaus wieder kräftig zugelangt. Der demagogischen Kriminalisierung der Regierungspolitik, die die Opposition betreibt, wird vor allem im Feuilleton der FAZ polemischer Nachdruck verliehen. Auffällig war am 16. November die Zensur von Harald Schmidts Klamaukshow - der als Vorzeigeintellektueller verehrt wurde, als er noch Polen-, Türken- und Schwulen-Witze machte, und in der FAZ gar Karl Ignaz Henne
Auf Schleichwegen
Deutsche Geschichte Arnulf Baring träumt von Barrikaden, die FAZ druckt seine steinernen Träume ab
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FAZ gar Karl Ignaz Hennetmairs Buch über Thomas Bernhard und gleich Bernhard selbst verreißen durfte. Um den Zustand der Republik als SPD-verschuldeten Notstand ausgeben zu können, fallen neuerdings auch Schmidts Deutschen-Witze unter die Zensur der rechtskonservativen FAZ. In - so wörtlich von Christian Geyer ausgemachten - "Frontzeiten" missfällt Schmidts Spaßkultur eben als "Verharmlosung des Desasters". Dieses Desaster - gemeint ist die ernste und reformbedürftige Lage der öffentlichen Finanzen und der deutschen Sozialsysteme - wird beinahe täglich mit Brandartikeln sowohl gegen die Regierung als auch gegen das gesamte parlamentarische System in der Bundesrepublik erhitzt. An der Spitze der schreibenden Fackelträger befindet sich der Publizist Arnulf Baring, der am 19. November in der FAZ ein diffuses "Wir"-Gefühl beschwören und - so wörtlich - die "Bürger auf die Barrikaden" rufen durfte. Dabei geht es Baring keineswegs um eine außerparlamentarische Opposition, die ohnehin in jeder demokratischen Gesellschaft in Form außerparlamentarischer politischer Arbeit und Lobbyistengruppen existiert und lebensnotwendig ist. Es geht Baring unverhohlen um eine - so wörtlich - "demokratische Diktatur", um eine Verfassungsänderung, die die Machtverteilung innerhalb des föderalen demokratischen Systems ändern soll. Baring argumentiert totalitär und wettert gegen die Gewerkschaften, gegen SPD und Parlament in einem, als gebe es nicht die Last der deutschen Einheit, als gebe es keine europäischen Stabilitätskriterien, keine NATO-Militärausgaben und keine globalen Arbeits- und Kapitalströme. Die FAZ-Baring-Kampagne gebraucht Begriffe aus dem 19. Jahrhundert und aus den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, die einerseits bewusst falsch auf die aktuelle Situation übertragen werden, und andererseits völlig anachronistisch sind. In einer unumgänglich inter-kulturellen Gesellschaft und einer vernetzten Welt ist es gefährliche Irreführung, im Freund-Feind-Schema zu verharren. Die tatsächlichen Probleme in der Bundesrepublik werden durch solche verfehlte Lagebeschreibungen nicht berührt, sondern verschärft. Statt einer konstruktiven Analyse sollen ein anderes Geschichtsbild und eine andere Verfassung eingesetzt werden. Die Krise der westlichen Industriestaaten, deren Sozialsysteme alle unter den neo-liberalen - und keineswegs sozialdemokratischen - Wirtschaftsstrukturen und unter veränderten demographischen Entwicklungen zusammenbrechen, wird hier zu einer Krise der Demokratie umgemünzt, um offene Rechnungen aus der selbstverschuldeten unmündigen Geschichte Deutschlands zu begleichen. So unverblümt und reißerisch hat das in den letzten Jahren noch niemand in einer überregionalen deutschen Zeitung schreiben dürfen. Das "demokratisch" darf man sich bei diesen Ausführungen getrost wegdenken. Barings Text in der FAZ ist ein Angriff auf den deutschen Föderalismus und damit auf die Grundfesten der deutschen Republik, deren demokratische Verfassung von den Alliierten, vor allem den Amerikanern verankert worden ist. Und diesem ungeliebten Ursprung entspringt auch ein Teil der lang gepflegten Ressentiments, und daraus entspringt auch die Stoßrichtung der scharfen Attacken, die nur vordergründig der rot-grünen Regierung gelten, in Wirklichkeit dem Teil der demokratischen Kultur in Deutschland, der auch eine verantwortungsbewusste Erinnerungskultur sein will. Unter der schrillen Kampagne der Opposition, flankiert unter anderem durch die FAZ und Baring, wird sich zeigen, wie tief verwurzelt diese Verfassung, die vor kurzem noch gefeiert wurde, in der Bevölkerung und im deutschen Parlament ist. Arnulf Baring von Peter Glotz 1990 eines "unklaren Patriotismus" geziehen, hat immer eine klare Sprache bevorzugt, wobei er dafür gerne dunkle, diffuse Gefühle in seinem Publikum instrumentalisiert. In der Welt vom 8. Oktober 1990 nennt er "Ostdeutschland" kurzerhand in "Mitteldeutschland" um, da die ostdeutschen Gebiete im heutigen Polen lägen, und fährt fort: "Auf längere Sicht werden die Deutschen sich dieser Gebiete wieder erinnern. Es wird selbstverständlich werden, nicht mehr die polnischen Namen zu benutzen, was eine Form von Sklavensprache ist, eine gehemmte, unfreie Untertanen-Mentalität zeigt." Mit Recht kann man Baring einen revisionistischen Ideologen nennen, der in der "Berliner Republik" breite öffentliche Aufmerksamkeit gewonnen hat. Zuletzt im sonntäglichen Bauchladen von Sabine Christiansen - in dem jeder Gast lauthals seine noch so abwegige Botschaft verkünden darf - wo Baring am 24. November unwidersprochen, aber hocherregt erneut eine Verfassungsänderung fordern konnte. Einsamer Höhepunkt einer langlebigen Strategie. Man kann die Linie der dumpf nationalistischen und subtil antisemitischen Argumentationen verfolgen, die Autoren mit Reputation, wie Martin Walser oder Karlheinz Bohrer, seit dem Fall der Mauer aus den privaten Sphären in die deutsche Öffentlichkeit trugen. 1990 fiel nicht nur die Mauer, sondern auch die letzte Rücksichtnahme gegenüber den Opfern der Nazi-Diktatur. Erst jetzt konnten die Deutschen sich richtig im Kreis der Opfer des Zweiten Weltkrieges platzieren. Vertreibung der Deutschen, Bau der Mauer und Marginalisierung der weltpolitischen Rolle, alles wurde plötzlich vereint. Schuld haben nun immer öfter die ehemals angegriffenen Länder selbst, wie Polen und Tschechien. Neuerdings wird - so in dem Buch von Jörg Friedrich über die Luftangriffe der Alliierten - auch der Befreiungskampf der allierten Truppen selbst als Kriegsverbrechen diffamiert. Hitlers Machtergreifung wird von Guido Knopp - dem deutschen Prototypen des selbstgewissen Lehrmeisters im Leitmedium Fernsehen, der vor allem zeigt, wie man Geschichte weich kocht - inzwischen gebetsmühlenhaft als "Machterschleichung" bezeichnet. Außer poetischem Gespür dokumentiert diese Ausdruckskreation einen weiteren Schritt auf dem Gang der Geschichtsverfälschungen, die vor allem ein Ziel kennen: die verfehlte Mordgeschichte des Dritten Reichs als verjährten Zwischenfall abzuhaken, der mal passieren kann. Dass vor gar nicht langer Zeit aber fast die Hälfte der europäischen Juden, ein großer Teil der europäischen Linken und Millionen von Deutschen grundlos und grausam ihr Leben ließen, soll als Episode unter anderen verniedlicht werden, an der deutsches Volk, deutsche Nation und deutscher Staat nur unter anderen beteiligt waren. Selbst Sir Ralf Dahrendorf kann der Versuchung nicht widerstehen und bezeichnet in der Süddeutschen Zeitung vom 19. November, in seinem Nachruf auf Rudolf Augstein, den Holocaust als einen "Wendepunkt, in den alles Frühere eingegangen ist und nach dem alles neu geworden ist". Dabei übersieht Dahrendorf, dass erst genau diese Argumentationen, die die Shoah als das große schwarze Loch der deutschen Geschichte auffassen, das die Zukunft blockiert, die deutsche Geschichte von ihren Traditionen abschneidet. Diese selbstverschuldete Dummheit gegenüber der Geschichte gehört in das strategische Arsenal der mehr oder weniger subtil argumentierenden Revisionisten, die der Wunsch antreibt, eine Geschichte zu bekommen "ohne Schatten, die weder Öffentlichkeit noch die Wissenschaft verdunkelt", wie es der Jurist und Publizist Norman Paech 1987 ausdrückte. Und man kann es nicht anders verstehen. Denn schon wenige Fakten können in Erinnerung rufen, dass es sich hier um politische, nicht um juristische, Fragen handelt, aus deren Verantwortungskreis sich deutsche Zeithistoriker stellvertretend für die vielen privaten Legendenerzähler herauszuschleichen versuchen. Mit den Historikern Adalbert Rückerl und Norbert Frei kann man hinsichtlich der Strafverfolgung der nationalsozialistischen Massenmörder von einem "Zufall der Anzeige" sprechen, der schon seit Ende der vierziger Jahre die juristische Aufarbeitung dominierte. Schon 1954 war ein zweites weit reichendes Amnestiegesetz für alle NS-Täter gültig, womit sieben Jahre nach Kriegsende alle überhaupt noch inhaftierten NS-Täter schon wieder frei waren und sich beim Aufbau der Bundesrepublik neue Sporen verdienten. Der unermüdliche Willi Winkler stellt in der Süddeutschen Zeitung vom 27. November in seiner Besprechung des erwähnten Buches von Jörg Friedrich dazu lapidar fest: "Zwar übte man sich im kollektiven Beschweigen, aber doch nur was die Ausrottung der Juden betraf." Und Winkler seufzt am Ende: "Es hilft nichts, es waren die Deutschen, die damit anfingen." Es sind diese einfachen Wahrheiten, die man heute wieder aussprechen muss, gegen die Tendenz, sie aus dem öffentlichen Bewusstsein zu verbannen. Es geht nicht darum, die deutsche Geschichte zu reduzieren, doch es muss immer darum gehen, zu differenzieren. Aber während die Überlebenden der Shoah nach Kriegsende besser schwiegen, um nicht erneute Verfolgung und Verleumdung zu erleben - der Tübinger Komparatistik-Professor Paul Hoffmann war beispielsweise seit 1970 einer der wenigen jüdischen Akademiker, die in der Bundesrepublik nach 1945 auf einen Lehrstuhl berufen wurden - formten die deutschen Täter ihre unverdauliche Schuld in einen Opfergesang um. Der frühere Kulturstaatsminister Michael Naumann hat in einem Interview des Deutschlandfunks am 6. Oktober dazu festgestellt, dass der heutige Antisemitismus in einem Land stattfindet, in dem es fast keine Juden mehr gibt. Wie eine Umfrage der Universität Essen 2000/01 ergeben hat, weiß ein Viertel der Studenten heute nicht mehr, was am 9. November 1938 passierte und über drei Viertel der Studierenden verbindet nichts mit der Wannsee-Konferenz vom Januar 1942. Sogar 69 Prozent der 18- bis 29-Jährigen verlangen einen Schlussstrich - offenbar unter eine Geschichte, die Ihre Großeltern noch miterlebt haben, von der sie selbst aber keine Kenntnis mehr besitzen (wollen). Wäre die legendäre Pisa-Studie der Frage von Legendenbildung und Geschichtsklitterung nachgegangen, hätte Deutschland sehr viel besser abgeschnitten. Diese Strategie jedenfalls scheint zurzeit aufzugehen: die deutsche Geschichte wird frisiert und keiner schaut hin.
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