Auf schmierigem Weg

Rohstoffe Nicht nur Autos sind süchtig danach: Erdöl ­füttert auch den Motor des technologischen Fortschritts. Kann es ohne weitergehen?

Der Anblick krepierender Seevögel kann einiges bewirken. Manch einer mag seit Beginn der Katastrophe im Golf von Mexiko darüber nachgedacht haben, weniger Auto zu fahren. Nicht mehr zu fliegen. Oder einen Elektrorasenmäher zu kaufen. Eben weniger Öl zu verbrauchen. Aber deshalb das Handy wegwerfen? Oder die neue Trekkingjacke?

Ja, auch das alles ist Öl. Mehr als zehn Prozent der aus Öl raffinierten Substanzen landen nicht in Tanks, sondern werden zu Dingen des täglichen Gebrauchs. In den USA sind es in der Tat mehr, gut zwanzig sogar, aber auch die spiegeln kaum die Bedeutung des Öls für die Technologiegesellschaften jenseits der motorisierten Fortbewegung wider. Denn was da so lapidar nach Bruchteil klingt, entpuppt sich in realen Zahlen als Monstrosität: Allein die Bundesrepublik Deutschland verbraucht Tag um Tag rund 400 Millionen Liter Rohöl – etwa so viel Öl also, wie bisher insgesamt aus dem Leck im Golf von Mexiko geströmt ist. Rund 40 Millionen Liter der daraus produzierten Chemikalien fließen in die Produktion von industriellen Grundstoffen. Im Jahr macht das mehr als zehn Milliarden Liter Rohöl, die unentbehrlich sind, weil sie gemeinsam mit dem ebenfalls fossilen Erdgas das materielle Fundament unserer Lebensverhältnisse darstellen, und zwar zu rund 90 Prozent.

Ohne Öl führen wir nicht nur keine Autos. Wir hätten auch keine Medikamente, keine Kontaktlinsen, keine künstlichen Gelenke oder Herzklappen, wir hätten keine Tupperdosen, keine Kosmetika, keine Waschmittel, keine Windjacken, wir hätten nicht einmal Möbel. Jedenfalls nicht in der Fülle, Preislage und Erreichbarkeit, mit der sich all diese Produkte der modernen Konsumgesellschaft darbieten.

Kollaps der Weltordnung

Es mag deshalb stimmen, dass das Gros des Rohstoffs Öl im Zuge des globalen Transportwesens verfeuert wird. Trotzdem würde allein der unmittelbare Verzicht auf das produktgebundene Öl den Kollaps unserer industriellen Weltordnung bedeuten.

Dass die Dringlichkeit dieser Zusammenhänge in Politik und Forschung weitestgehend beschwiegen wird, muss man daher schon als einen Akt der Verdrängung bezeichnen, zumal: die Abhängigkeit vom Öl kommt alles andere als plötzlich. Sie reicht weit in eine Zeit hinein, in der Erdöl noch gar nicht der entscheidende Rohstoff war, sondern Kohle. Kohle fütterte die Dampfmaschinen der Industrialisierung, und als Rückstand der Verkokung ließ sie Teer zurück. Es waren die Gründer der organischen Chemie, die aus Steinkohlenteer lauter fortschrittliche Substanzen extrahierten, aus denen wiederum fortschrittliche Farbstoffe, Aromen und Synthesematerialien gewonnen werden konnten. Das Spiel mit den Kohlenwasserstoffen wäre jedoch irgendwann nicht mehr gewachsen, wenn nicht die rege Suche nach Öl in der Mitte des 20. Jahrhunderts ein kostengünstigeres, transportableres Rohmaterial verfügbar gemacht hätte. Erdöl war der billige Befreiungsschlag für die aus Kohle geborene, aber doch auf Kohle beschränkte Wissenschaft der Chemie. Und sie führte geradewegs in ein neue, noch größere Abhängigkeit.

Wie kommen wir da wieder raus? Die Versuche der Forschung, sich jenseits von Biokraftstoffen um Alternativen zu bemühen, sind bislang noch erschreckend übersichtlich. Zum einen fehlt es wohl an der Erkenntnis: Die Organische Chemie ist in ihrer industriellen Dominanz derart unangetastet, dass noch in diesem Jahrzehnt zwei Nobelpreise an Forscher des Feldes verliehen wurden, deren Arbeiten nicht etwa Wege aus dem Dilemma weisen würden, sondern lediglich Fortschritt innerhalb der Abhängigkeit vom Öl bedeuteten. So bekam Ives Chauvin vom Institut Francais du Pétrole die höchste wissenschaftliche Auszeichnung erst 2005 dafür, dass er 35 Jahre zuvor einen wichtigen Reaktionsmechanismus der Petrochemie durchschaut hatte, die sogenannte Metathese. Chauvins Entdeckung bahnte den Weg für optimierte Reaktionsbeschleuniger wie den Grubbs-Katalysator, die wiederum die Produktionskapazitäten und die Zahl neu entwickelter Materialien aus Kohlenwasserstoffen erhöhten. Darunter auch neue Baustoffe für Flugzeuge. Ausgerechnet.

Ansätze im Reagenzglas

Was die geistige Leistung der Wissenschaftler gar nicht schmälern soll, aber doch zeigt, dass die Vision im Ganzen fehlt. Offensichtlich wurde das auch vor zwei Jahren, als der Ölpreis kurzzeitig in schwindelerregende Höhen von gut 140 Dollar pro Fass stieg, und der deutsche Verband der chemischen Industrie über die Frage sinnierte, was denn wohl der Ausweg sein könne, wenn die Versorgung mit Rohöl vielleicht doch einmal kollabiert. Man fand gleich drei erfreuliche Lösungen für das Problem: Erstens sei ja noch genug Kohle da, deren Verflüssigung zu Rohöl zwar derzeit noch nicht „großtechnisch“ betrieben werde – aber was nicht ist, kann ja immer werden. Zweitens gebe es nachwachsende Rohstoffe wie Pflanzenöle, Bio-Alkohol und Sojamehl, mit denen die chemische Industrie bereits zehn Prozent ihres Chemikalienbedarfs deckt. Um darüber hinaus von dieser echten Alternative zu profitieren, müssten aber „die Forschungsarbeiten intensiviert und die Forschungsförderung im Bereich der stofflichen Verwertung deutlich verstärkt“ werden. Das werde jedoch nur geschehen, wenn die Ölpreisentwicklung dies wirklich nötig mache. Weshalb die dritte Idee wohl die bevorzugte ist: Der VCI glaubt, dass die Gewinnung von Biodiesel und anderen alternativen Treibstoffen für den ölfressenden Transportsektor eine Kursänderung für unsere bunte Chemikalienwelt ganz überflüssig macht. Immerhin verbraucht die chemische Industrie nur gut 13 Prozent, und damit bloß einen Bruchteil der geförderten Erdölmenge – und diese Versorgung ließe sich auf lange Sicht sichern, wenn das wertvolle Öl für diesen Zweck gespart würde.

Soll das die Lösung für eine ökologisch bewusste Zukunft sein? Die Forschung hätte doch sicher weit mehr zu bieten, wenn man sie nur forderte – und ließe. Biogasanlagen können den einfachen Kohlenwasserstoff Methan als Grundsubstanz liefern. Die Weiße Biotechnologie kann Mikroorganismen dazu bringen, organische Verbindungen im Reagenzglas herzustellen, zarte Ansätze in diese Richtung gibt es längst. Neue Recyclingverfahren wären in der Lage, den Bedarf an Rohstoffen jeglicher Art überhaupt zu senken. Doch all das hieße, auch den Begriff von Fortschritt anders zu denken, anstatt auf dem falschen Weg voranzuschreiten.

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