Auf zu keinem Gefecht

Kommunismus Marko Martin hat die letzten Zeugen eines Zeitalters besucht
Ausgabe 37/2019

Um ein paar sehr betagte Menschen zum Sprechen bringen, reiste er einmal um die Welt, Marko Martin interessierte eine Art des Denkens, das er dissidentisch nennt, entstanden aus der Enttäuschung über die Illusion des Jahrhunderts, den Kommunismus. In Mexiko-Stadt, Buenos Aires, Jerusalem, Paris oder Colombo besuchte er Zeugen und Exilanten, meist berühmte „Abgesprungene“. Manès Sperber gehört dazu, Milan Kundera, der Nobelpreisträger Czesław Miłosz, Jürgen Fuchs aus der DDR. Den Knotenpunkt bildet Melvin Lasky, Herausgeber der 1948 gegründeten Zeitschrift Der Monat, in der die Dissidenten veröffentlicht hatten.

Da diese Damen und Herren sehr alt sind und mittlerweile Generationen herangewachsen sind, die diesen Kosmos nicht kennen, muss erläutert werden, dass es um Menschen geht, die einmal aus Überzeugung und Idealismus zum Kommunismus gefunden hatten und irgendwann abfielen. Als die aufständischen Matrosen auf Trotzkis Befehl niedergeschossen wurden, als die Bolschewiken der ersten Stunde ermordet wurden, als im Spanischen Bürgerkrieg unliebsame Genossen verschwanden, während der sogenannten Schauprozesse unter Stalin. Für Jüngere war spätestens die Niederschlagung des Prager Frühlings der Grund für den Bruch.

Die Dissidenten blieben auf eine schwer zu beschreibende Art „Linke“, jedenfalls wurden sie keine kalten Krieger, das ist dem Sammler dieser Biografien wichtig. Martin verknüpft seine Gespräche mit Auszügen aus der Lektüre, Gedanken und Einschüben über die wichtigsten Ereignisse in diesem einst mit so viel Hoffnung verbundenen, dann mörderischen Kosmos. „Dissidenten sind die Würde und Ehre unserer Epoche“, heißt es auf der vorletzten Seite dieser Sammlung, das Buch ist der Versuch, eine Haltung herauszupräparieren.

Einer der Porträtierten war schon tot: Arthur Koestler hatte sich 1983 gemeinsam mit seiner Frau umgebracht, da war Marko Martin gerade 13 Jahre alt und lebte in der damals noch real existierenden DDR. Aber Koestler, der eines der wichtigsten unter den vielen wichtigen Büchern über Verbrechen und Lügen im linken Lager (Sonnenfinsternis) schrieb und viele Kommunisten aufrüttelte, darf nicht fehlen. Es werden andere Ex-Genossen oder Vorbilder genannt, die zur unorganisierten Community gehören: Albert Camus, André Glucksmann, Robert Havemann oder auch Heinrich Böll, die sich für Gefangene einsetzten oder über stalinistische Verbrechen aufklärten. Immer geht es um ein Leben mit vielen Widersprüchen, um Menschen, die Schreckliches erlebten und die nicht verbitterterten, um eine Anschauung, die zweifelnd, hoffend, ohne Schlagworte und endgültige Gewissheiten auskommt.

Sie kennen oder kannten einander, auch wenn sie weit über die Welt verstreut leben. Neben Melvin Laskys Zeitschrift war der Kongress für kulturelle Freiheit ein Sammelbecken. Beides wurde, wie man erst spät erfuhr, von der CIA finanziert. Martin ist offenkundig bemüht, diese antikommunistischen Treffen gegen Verschwörungstheorien zu verteidigen und Melvin Lasky von dem Ruch der Kooperation mit der CIA reinzuwaschen. Zu dieser Verteidigung gehören auch die wiederholten Seitenhiebe auf westliche Intellektuelle, die den Sozialismus viel zu lange verteidigt hätten. Er meint auch, die DKP hätte großen Einfluss auf die westdeutsche Linke gehabt. Hier übertreibt er, aber das gehört wohl zu den immer noch unterschiedlichen Wahrnehmungen von Ostlern und Westlern.

Im letzten Beitrag nutzt er das exzellente Gedächtnis der 105-jährigen Mariana Frenk-Westheim, um nochmals die wichtigsten Stationen des Jahrhundertirrtums zusammenzufassen. Für Nachgeborene, die all das nicht kennen, gibt es eine Liste von Büchern zum Weiterlesen.

Info

Dissidentisches Denken. Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters Marko Martin Die andere Bibliothek 2019, Bandnr.: 415, 540 S., 42 €

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