Aufbruch und Fall

VERFEHLTES LEBEN Angelika Klüssendorfs Debütroman "Alle leben so"

Entweder der Zusammenhang fehlt und alles fällt auseinander oder selbst die Zeit scheint "mit Klebstoff festgebunden" zu sein. Ständig müssen sich die Romanfiguren von etwas losreißen, um doch nur in die nächste Verhaftung zu treiben, der sie dann wiederum zu entfliehen suchen. "Ist das dein Lebenstraum: eine Totenwache?", fragt der gestrandete Dichter seine Geliebte. "Reg Dich nicht auf. Irgendwie leben alle so." Also nichts wie weg, solange die Kraft reicht ... Haltlos stolpern die Figuren einander in die Arme, überfrachten sich mit ihren Sehnsüchten, um am Ende ihre Einsamkeit zu erkennen, mit der sie nicht zurecht kommen. Alle leben so heißt provokativ der erste Roman von Angelika Klüssendorf. Zuvor hatte sie bereits zwei Erzählungen und ein Theaterstück veröffentlicht.

Die Genrebezeichnung Roman mag auf den ersten Blick nicht ganz einleuchten. Nur in zwei Kapiteln meldet sich ergänzend ein Erzähler zu Wort. Dort wirkt er jedoch eher wie ein Relikt, überflüssig gemacht von den anderen Romanfiguren, die das Erzählen in den restlichen Kapiteln selbst in die Hand nehmen. Eine Art Reigen entsteht: die Figur, die eben noch in einer Geschichte vorkam, führt in einem anderen Kapitel selbst das Wort und so weiter. Am Ende sind alle irgendwie miteinander verbunden - die Autorin hat untergründig gewebt.

Klüssendorf siedelt die Geschichten in Berlin an, diesseits und jenseits der neuen Grenze, die nun zwischen den sozial Kompatiblen und den Gescheiterten verläuft. Wie einfach wäre es, die "Menschen in Schuldner und Nichtschuldner" einzuteilen, am besten "gleich nach der Geburt". Doch in dem Moment, wo diese Grenze genauer in den Blick gerät, löst sie sich auch schon auf: Denn mehr als die Figuren trennt, vereint sie ihr gemeinsamer Orientierungsverlust, ob sie nun gesellschaftlich anerkannt leben oder nicht.

Da ist zum Beispiel der Gerichtsvollzieher, der seine Tage damit verbringt, Schuldner aufzusuchen, sie zurechtzuweisen und eventuell vorhandene Wertgegenstände zu pfänden. Nach dreißig Jahren hat er noch immer das Gefühl, in seinen Beruf nur hineingerutscht zu sein. Viel lieber wäre er ein Betrüger geworden, "ein Billy the Kid, ein Al Capone", wenn er nicht immer die Angst gehabt hätte, zu versagen. Diese biographische Schräglage befähigt ihn wohl, seine hoffnungslosen Sozialfälle so zu beschreiben, dass sie etwas Besonderes gewinnen. Kein bisschen rührselig erzählt er von seinen Klienten - er zeichnet sie mit präzisen Strichen, selbst da, wo er sie nur in einer kurzen Skizze streift.

Der Dichter (übrigens einer der Schuldner) ist notorisch auf der Suche nach Erzählstoff und leidet an vegetativer Dystonie, einer chronischen Verstimmung des Verdauungsapparates. Dagegen hilft kein Medikament, da er das Leiden selbst produziert. Er verzehrt sich nach der Liebe, die er im Leben nicht findet und bleibt in seinen Schreibversuchen ebenso erfolglos wie bei den Frauen: "Bei mir hüpften die Vögel nicht von Ast zu Ast, sie brachen sich das Genick. Ich bekam es einfach nicht hin, einen normalen Tag entstehen zu lassen".

Aufbruch und Fall in jeder Hinsicht sind die Grundbewegungen im Roman, Aufbrüche, in denen der tiefe Fall schon angelegt ist und Aufbrüche, die wie Ersatzhandlungen wirken, um sich der Gravitation des verfehlten Lebens nicht völlig kampflos zu ergeben. Darin liegt die erzählerische Stärke von Klüssendorf, dass sie ein Treiben sichtbar macht, das nur noch um seiner selbst willen stattfindet und das wie zufällig tiefsinnige Momente hervorbringt, für die sich aber keine der Figuren zuständig fühlt.

Klüssendorf folgt den Figuren in ihre deformierten Seelenleben. Da gibt es den Chef und Ehemann mit der Neigung zu zwölfjährigen, flachbrüstigen Mädchen, die unaufhaltsam abstürzende Alkoholsüchtige oder die hoch verschuldete polnische Schauspielerin, die einen rituellen Selbstmord begeht: Ein tragisches Panorama, dem jedoch das Pathos zur Tragödie fehlt. Denn bei aller Heillosigkeit der geschilderten Verstrickungen triumphieren die Figuren doch über die Bitterkeit ihrer Realität. Sie sind Produkte einer souveränen Konstruktion der Autorin, und auch wenn sie nur noch Verkorkstes zu berichten haben, verströmen sie doch immer noch die Lust am Erzählen.

Angelika Klüssendorf:Alle leben so. Roman. Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2001, 190 S., 18,90 €

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