Erst war da nur ein gigantischer Riss im Eis. Binnen weniger als 30 Sekunden soll er sich, wie Wissenschaftler meinen, über eine Länge von 52 Kilometern fortgepflanzt haben. Das war bereits im Juli vergangenen Jahres. Wie das US-amerikanische Eis- und Schneedatenzentrum (NSIDC) erst kürzlich mitteilte, hat sich nun, am 28. Februar 2008, ein gewaltiger, 200 bis 250 Meter dicker Schelfeisblock aus dem Wilkins-Schild im Westen der Antarktis gelöst und ist in mehrere Rieseneisberge zersplittert. Zahlreiche Satellitenbilder dokumentieren dieses bewegende Schauspiel der Naturgewalten. 405 Quadratkilometer misst die weggebrochene Fläche, 41 Kilometer in der Länge, zweieinhalb in der Breite. Damit sind die Inseln Charcot und Latady mit dem Zentrum des Wilkins Schelfei
feises nur noch durch eine sechs Kilometer breite Eisbrücke verbunden.Steigende Temperaturen und RegenSchon seit einigen Jahren gilt die Antarktische Halbinsel als die fragilste Zone des südlichsten Kontinents. Nach den Aufbrüchen des Prinz Gustav Channel, des Larsen A - und Larsen B Schelfeises und anderen ist nun der südwestlichste Teil der Region in Bewegung geraten. "Die Antarktische Halbinsel ist mit 2,5 Grad Celsius weltweit die Region mit dem stärksten Temperaturanstieg in den letzten 50 Jahren", erklärt der Energieexperte von Greenpeace Hamburg, Karsten Smid, den Hintergrund der Ereignisse. Für diese These spricht, dass alle sieben Schelfeise, die in der Antarktis bisher komplett zerfallen sind, in dieser Region lagen. "Erschreckend ist das Tempo und die Dimensionen, die das entwickelt, und dass die Abbrüche immer weiter zunehmen", so Smid.Begleitet wird das ungewöhnliche Schwinden des Schelfeises durch eine ganze Reihe anderer klarer Anzeichen eines regionalen Klimawandels. Die Zirkulationsmuster in der Atmosphäre ändern sich und mit ihnen die Wetterlagen: die Temperaturen steigen und es fällt mehr Regen. Es gibt Indizien für die Änderung der Meeresströmungen, Inlandgletscher fließen schneller ab, während sich die zwei einzigen Blühpflanzen des Kontinents immer stärker ausbreiten.Mit der steigenden Lufttemperatur und wärmeren Meeresströmungen in der Region wird das Schelfeis gleich doppelt in die Mangel genommen. Das wärmere Meereswasser unterspült die gigantischen Eistafeln und schmilzt sie von unten an. So entstehen Unterschiede in der Mächtigkeit der Eisplatten, die nach Ansicht des Bonner Antarktisforschers Matthias Braun und seiner Kollegin Angelika Humbert von der Arbeitsgruppe Polargeophysik an der Universität Münster für die jüngste Entwicklung eine zentrale Rolle gespielt haben. "Der Riss bildete sich genau da, wo die Dicke des Eises variiert", berichtet Braun. Auftriebskräfte erzeugten Spannungen im Eis und führten zu seinem Aufbruch. "Mit den steigenden Temperaturen ändert sich zudem die Bruchfestigkeit des Eises, es wird labiler und bricht schneller."Schmelzseen kamen dagegen auf dem Wilkins Schelf nicht vor, und kommen so als Mitauslöser für die Rissbildung und Ablösung der Eistafel nicht in Frage. Ungeklärt ist jedoch bisher noch die Rolle der sogenannten Ice-Rises, felsiger Erhebungen im Wasser, die das schwimmende und meerwärts fließende Schelfeis behindern und deshalb von diesem komplett eingeschlossen werden. Im Gegensatz zu ihrer stabilisierenden Wirkung an anderen Orten der Antarktis führt ihr Vorkommen im Wilkins Schelf zu zahlreichen Rissen und Schädigungen im Eis. "Dies macht das Wilkins Schelfeis insgesamt fragil und kann zu einem kompletten Aufbruch führen", warnt Braun.Im nächsten Januar wissen wir mehrTatsächlich ist es nicht unwahrscheinlich, dass das gesamte Schelfgebiet dem Klimawandel zum Opfer fallen wird, denn mit der jüngsten Entwicklung Ende Februar hat sich die Breite des Stegs, der das Zentrum des Wilkins-Schelfs mit den beiden Inseln verbindet und vor einem völligen Auseinanderbrechen schützt, von 20 Kilometern auf sechs reduziert. Auch zieht sich, wie sich auf Satellitenbildern der NSDIC gut erkennen lässt, durch die verbleibende Fläche ebenfalls ein - wenn auch schon etwas älterer - Riss. Sollte es zu einem Kollaps des Wilkins-Schelf kommen, dann frühestens im nächsten Jahr, denn auf der Antarktis beginnt in Kürze der Winter. "Erst im kommenden Januar werden wir sehen, ob Wilkins weiter zerfällt", kündigt der führende Wissenschaftler des NSIDC, Ted Scambos, an.Damit sind die Auswirkungen des aktuellen Aufbruchs im Wilkins-Schild für die Westantarktis, Meeresspiegel oder das Weltklima langzeitigerer Natur. Im Vergleich zu der Ablösung des Larsen B Schelfeisgebiets im Jahre 2002 innerhalb eines Monats wirkt er eher unspektakulär, denn die Fläche, die damals abbrach, war gut acht mal so groß. Im Anschluss verstärkte sich das Fließen der Inland-Gletscher und der Meeresspiegel stieg. Das ist bislang im Wilkins Schelf nicht der Fall, "aber sollte er einmal komplett wegbrechen, wird das vielleicht auch hier passieren", meint Braun. Zwar beherbergt Wilkins weniger Gletscher als Larsen B, aber mit einer Fläche von knapp 14.000 Quadratkilometern handelt es sich um das größte noch verbleibende Schelfeis der Westantarktis.Karsten Smid sieht das Kollabieren des Schelfeises der Antarktischen Halbinsel im Kontext der Gesamterwärmung im Westen des Kontinents: "Das westantarktische Eisschild wird zu einem sensiblen Kippelement, das besonders anfällig ist für den Klimawandel". Sein schrittweises Abschmelzen während der nächsten drei Jahrhunderte würde nach den Prognosen der Umweltorganisation den Meeresspiegel um etwa fünf Meter anheben. Deshalb ruft sie dringend dazu auf, den Mahnungen des Reports des Internationalen Klimarats (IPCC) Folge zu leisten und den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf maximal zwei Grad Celsius gegenüber dem Mittel, der zu Beginn der Industrialisierung herrschte, zu begrenzen.