Marie trifft Maßnahmen, die sie für vorsorglich hält. Sie ist eine zusehends eingeschränkte Person mit großem Mundwerk. Tut mir Leid - ich halte sie manchmal für eine echte Zicke." Das sagt Maries andere Hälfte. Sie ist die Ich-Erzählerin in Regine Sylvesters erstem Roman Vorgeschriebene Flughöhe. Marie und "ich" leben allein in der Großstadt, haben Freunde, zu denen sie ohne Anmeldung kommen können, Liebschaften ohne Zukunft, einen gut bezahlten Beruf und ein gemeinsames Schicksal - sie werden demnächst fünfzig.
Das sind Fakten, Konstrukte, aus denen sich die "Geschichten" spinnen, "die das Leben schreibt". So nennt man das im Boulevard oder im Vorabendprogramm des Fernsehens. Aber ist erzähltes Leben schon ein Roman? R
chon ein Roman? Regine Sylvester beschreibt Alltagssituationen, in die eine Frau reiferen Alters geraten kann, wenn sie - zum Glück! - noch nicht mit allem abgeschlossen hat, wenn sie immer noch neugierig und erlebnishungrig, ja sexuell aktiv ist. Dafür hat die Autorin ein Gespür, das kann sie gut, manchmal brillant, und manchmal zerstört sie die Wirkung ihrer eigenen Worte durch zu viele oder auch klischeehafte Erklärungen: "Die Tiefe meiner plötzlichen Verzweiflung vor dem Fernseher überraschte mich selbst. Dieses untröstliche Schluchzen musste sich über eine lange Mauerzeit angesammelt haben." Oder: "Manchmal gehe ich alleine in ein Café. Viele Frauen machen das mit großer Selbstverständlichkeit. Aber ich fühle mich dabei unsicher. Ich denke, dass auf meiner Stirn geschrieben steht: Hier sitzt eine Frau alleine, weil sie keine Alternative hat. Ich denke, dass ich emotionale Bedürftigkeit ausstrahle p..." Wie oft habe ich solche Sätze schon in Reportagen oder Porträts gelesen! Von einem Roman erwarte ich mehr. Die Liebesgeschichte, die uns Regine Sylvester erzählt, ist einfach und dennoch schwer nachvollziehbar. "Ich habe ihn doch gleich aufgeraucht", gesteht die Ich-Erzählerin ihrer Freundin Carola. Nun gut, das war vorauszusehen. Aber alles Weitere? Der Reihe nach ...Die erfolgreiche und gut bezahlte - man erfährt es so oft, dass es nervt - Journalistin kurz vor Vollendung des 50. Lebensjahres trifft auf Jesús, einen jungen Kubaner, der regelmäßig einige Wochen in Deutschland verbringt, um mit Hilfsarbeiten Geld für seine große Familie in der fernen Heimat zu verdienen. Die allein lebende Frau hat einen Computer zu verschenken und einen reparaturbedürftigen Haushalt. Der junge Ausländer hat geschickte Hände und hightechbedürftige Verwandtschaft. Ein Geschenk von einer Fremden geht gegen seinen Stolz, aber man sagt, Kubaner seien Meister im Reparieren. Ein wackliges Tischbein, eine fehlende Strebe in einer Stuhllehne, eine zerschrammte Biedermeiertischplatte finden sich schnell. Ein Computer ist teuer, Jesús will noch mehr reparieren. Schließlich zeigen ihm Marie und "ich" das zerbrochene Bett, in dem wenige Zeit später alle gemeinsam landen werden. Davor gibt es einen Einkauf im Baumarkt, bei dem der Verkäufer den Kubaner ignoriert. Im Supermarkt werden für den gut gebauten, jungen Mann zwei Packungen Schinken gekauft und worauf er sonst noch zögerlich Appetit hat. Sie gehen in ein Café und ins Kino, dann ins Bett. Am nächsten Tag fliegt Jesús zurück nach Kuba. Mittwochs gibt es einen Ort, an dem man ihn erreichen kann. Er hat einen Zettel hinterlassen. "Da stehen ein paar Worte und Zahlen. Jesús mischt große und kleine Buchstaben in einer ungeschickten schiefen Blockschrift, auch seine Zahlen fallen hin und her: Mein Kubaner schreibt wie ein Kind. Oder wie ein Holzfäller. Er kann andere Sachen. Heute ist Montag. Noch zweimal aufwachen, dann rufe ich ihn an." Die Ich-Erzählerin ist nicht aufgewacht. Sie ruft nicht nur Mittwoch für Mittwoch in Kuba an. Als sie merkt, dass sie den Menschen in dem warmen, fernen Land eigentlich gar nicht kennt, reist sie zu ihm. Spätestens hier hätte sie aufwachen sollen. Die Bedingungen, unter denen sie sich ihr Liebesabenteuer für viele Dollar erkaufen muss, sind alles andere als erbaulich. Nachts heimlicher Sex in der allerletzten Absteige, weil ihrem Liebsten kein Zutritt zu ihrem Ferienparadies gewährt wird. Tagsüber selten allein, weil es immer etwas für die weit verzweigte Verwandtschaft zu organisieren oder transportieren gibt, wenn schon mal ein reicher Gast aus Deutschland mit einem Mietauto zur Stelle ist. Sie spricht nicht Spanisch, er kaum Deutsch. Doch die gestandene Journalistin beschließt, den 25-jährigen arbeitslosen Kubaner zu heiraten. Warum? Vorgeschriebene Flughöhe ist ein vergnüglich zu lesendes Buch. Es stecken viele kleine Geschichten in ihm, die meisterhaft miteinander verknüpft sind. Wenn der Roman nach Thomas Mann ein "Fest des Erzählens" ist, dann habe ich vielleicht doch gerade einen konsumiert?Regine Sylvester: Vorgeschriebene Flughöhe. Argon Verlag, Berlin 2002, 253 S., 18 EUR