Aufgetürmter Beziehungsmüll

Interview Andrej Kortunow, Generaldirektor des Russischen Rates für Internationale Angelegenheiten, erhofft sich vom Treffen Biden-Putin, dass der diplomatische Krieg beendet wird
Seit diesem Händedruck 2011 ist hat sich im Verhältnis zwischen USA und Russland einiges angestaut
Seit diesem Händedruck 2011 ist hat sich im Verhältnis zwischen USA und Russland einiges angestaut

Foto: Imago/ITAR-TASS

der Freitag: Warum führen globale Herausforderungen wie der internationale Terrorismus, die Wirtschaftskrise, die Pandemie nicht zu mehr Zusammenarbeit zwischen den Ländern, sondern im Gegenteil zu einer Verschärfung der Konfrontation? Auch zwischen Moskau und Washington

Andrej Kortunow: Es gibt eine Vielzahl von Gründen, die Welt durchläuft aktuell einen Prozess der Entglobalisierung. Ich würde gerne hoffen, dass diese Entwicklung vorübergehend ist. Derzeit aber sehen wir: Das zu Beginn des Jahrhunderts entstandene Modell der Globalisierung verzeichnet offensichtliche Brüche. Ausländische Direktinvestitionen gehen zurück, der Handelsumsatz sinkt, Beschränkungen des grenzüberschreitenden Personenverkehrs werden eingeführt. Das heißt, wir sehen jetzt gewissermaßen ein Rollback des Ausmaßes der Verbindungen und der Verbindungsfähigkeit einzelner Länder und Regionen. Womöglich war die Finanzkrise 2008/09 schon der Wendepunkt, doch gab es danach Dinge, die diese Entwicklung beschleunigten. Etwa die Flüchtlingskrise in Europa, das Phänomen Donald Trump, das noch nicht vollständig überwunden ist. Und am Ende steht, dass die Menschheit heute leider uneiniger zu sein scheint als noch vor zehn Jahren.

Haben die Länder das Gefühl, dazu gedrängt zu werden, sich von der Welt abzuschotten? Auch aus Gründen, die sie als Bedrohung ihrer Sicherheit wahrnehmen?

Wenn die Leute Dinge nicht verstehen, wirken Reflexe. Genau das sehen wir in der Weltpolitik. Ein solcher Reflex besteht darin, sich in seinem Staat zu verstecken, die Zusammenarbeit zu verweigern, sozusagen nach dem Motto: „Rette sich, wer kann“. Zugleich gibt es immer noch tiefe gesellschaftliche Prozesse, die weiter zur Annäherung von Gesellschaften, Völkern und Staaten führen. Diese können unterdrückt, verlangsamt werden. Sie aufzuhalten, erscheint mir unmöglich. Wenn wir uns etwa die Mehrheiten bei Meinungsumfragen in Russland ansehen, finden wir aktuell keine ausgeprägte antiwestliche Stimmung. Die gab vor allem nach der Ukraine-Krise 2014. Aber jetzt sind solche Stimmungen rückläufig, auch gegenüber den USA. Ich glaube, in der russischen Gesellschaft sind antiamerikanischen Gefühle nicht tief verwurzelt. Wenn wir aber über die Vereinigten Staaten sprechen, so scheint es mir schon so, dass dort antirussische Gefühle etwas stabiler sind, als die antiamerikanischen in Russland. Aber auch sie würde ich nicht überschätzen, vor allem da sich beide Seiten momentan in einem Zustand befinden, wo ihre Gesellschaften vor allem mit inneren Problemen beschäftigt sind. Wir sehen, dass Russland und die USA deswegen nicht zu größeren außenpolitischen Aktionen bereit sind.

Wird die Entwicklung der Beziehungen zwischen Russland und den Vereinigten Staaten durch Bündnisverpflichtungen behindert? In europäischen Ländern etwa wird viel von der russischen Bedrohung gesprochen.

Ein solches Problem existiert. Ich würde hier aber vorschnelle Verallgemeinerungen vermeiden. Wir leben in einer sehr komplexen Welt, hier kreuzen sich verschiedene Interessen, wirklich sehr verschiedene. So gibt es Länder vor allem in Osteuropa, die einen härteren Kurs gegenüber Moskau für notwendig halten. Eine mögliche Annäherung zwischen Washington und Moskau befürchten sie mehr und würden die Biden-Administration gern zu einem schärferen Vorgehen veranlassen, um gegenseitige Zugeständnisse verhindern. Aber es gibt auch andere Kräfte in Europa. Wenn wir etwa über Deutschland sprechen, so gibt es dort politisch einflussreiche Gruppen, die sich für eine Normalisierung der Beziehungen zwischen den USA und Russland einsetzen. Dabei gibt es natürlich das Nordstream-II-Problem als schwieriges Thema zwischen Berlin und Washington. Schon deswegen drängt Europa die USA nicht zur ständigen Konfrontation, stattdessen wird versucht, Konfrontation zu vermeiden.

Zur Person

Andrej Kortunow (67) ist seit 2011 Generaldirektor des Russischen Rates für Internationale Angelegenheiten. Als Experte für Geopolitik ist der Autor zahlreicher wichtiger Fachpublikationen häufig in russischen und internationalen Medien zu Gast. Die Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Tätigkeit sind neben der Außenpolitik Russlands die russisch-amerikanischen Beziehungen

Auf russischer Seite ist das ähnlich. Natürlich gibt es Partner Russlands, die relativ gesehen nichts zu verlieren haben und daher von einer Intensivierung der Konfrontation profitieren können. Aber es gibt auch andere Kräfte. Wenn wir etwa über Indien sprechen, das mit Russland Beziehungen innerhalb einer sogenannten privilegierten strategischen Partnerschaft unterhält. Gleichzeitig entwickelt Indien auch sehr aktive Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten. Und die Politiker in Delhi wollen nicht, das Indien zwischen Russland und Amerika wählen muss.

Weiterhin muss man verstehen, dass überhaupt nur wenige auf der Welt an einer weiteren Verschärfung der russisch-amerikanischen Konflikte interessiert sind. Schließlich geht sie einher mit dem erhöhten Risiko eines militärischen Zusammenstoßes.

Dmitry Peskow, der Pressesprecher von Präsident Putin, sagte zum anstehenden Gipfel in Genf, dass der Reset für die bilateralen Beziehungen, der unter Barack Obama stattgefunden hat, eine negative Erfahrung war. Von einem solchen könne jetzt keine Rede sein. Baut der Kontakt zwischen Russland und Amerika auf neuen Prinzipien auf?

Immerhin wurden während des Resets konkrete Ergebnisse erzielt, die bis heute Bestand haben. So beurteilen wir jetzt die Verlängerung des New-START-Vertrags sehr positiv. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass dieser Vertrag während dieses Neustarts im Jahr 2010 unterzeichnet wurde. Wäre dieser Neustart nicht gewesen, gäbe es diesen Vertrag nicht. Zu dieser Zeit trat Russland der Welthandelsorganisation WTO bei, wobei die USA ebenfalls eine Rolle spielten. Alles in allem scheint mir der Reset ein positiver Faktor in unseren Beziehungen gewesen zu sein. Aber man kann Dmitry Peskow insoweit zustimmen, dass die seinerzeit gestellten Erwartungen nicht erfüllt wurden. Der Reset reduzierte sich eben auf das „Herausschaffen des Mülls“ nach dem Kalten Krieg. Die Entscheidungen, über die ich gesprochen habe, standen alle mit dem negativen Erbe des Kalten Kriegs in Verbindung. Insofern musste nach einer neuen Grundlage der Beziehungen suchen, um den Problemen des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden. Sie wurde nicht gefunden, und alles ging zurück. Jetzt ist es natürlich unmöglich, zu diesem Reset zurückzukehren. Die Aufgaben, die wir uns jetzt stellen, sollten bescheidener sein.

Was glauben Sie, welche Fragen werden beim Gipfel in Genf angesprochen?

Ich glaube, dass es mindestens vier Kategorien von Problemen gibt, die eine Diskussion verdienen. An erster Stelle steht die strategische Stabilität. Unsere Beziehungen basieren natürlich auf der Rüstungskontrolle auch außerhalb des New-START-Rahmens. Strategische Stabilität ist ein breiter Begriff und bedeutet eigentlich, sich gegenseitig keinen Schaden zufügen. Das gilt auch für die Einmischung in innere Angelegenheiten, in Wahlen oder politische Prozesse. Davon gestreift wird das Problem der Cyberangriffe auf wichtige wirtschaftliche und militärische Infrastruktur. Hier ist es sehr schwer, eine Einigung zu erzielen, weil die Staaten und politischen Systeme verschieden sind und es keine Symmetrie gibt. Beide Länder haben aber Befürchtungen, im gewissen Sinne sogar eine Paranoia, dass die andere Seite versucht, sich in ihre inneren Angelegenheiten einzumischen. Ein weiterer Aspekt der strategischen Stabilität ist das Erkennen gemeinsamer Interessen. Eine Verbesserung der Handhabbarkeit des internationalen Systems – global und regional. Das Thema des Klimawandels, der Kampf gegen den internationalen Terror. Die Stabilisierung der Ölpreise, an der die USA und Russland unter Trump recht erfolgreich gearbeitet haben.

Der zweite Block sind Fragen zu bestimmten Regionen der Welt. Beispielsweise verlassen die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten Afghanistan. Natürlich könnte Russland dazu beitragen, dass dieser Rückzug für Amerika weniger schmerzhaft wird. Ob Russland das will, wird ein umstrittenes Thema sein. Es gibt auch die Frage nach der Zukunft Syriens, wo beide, Russland und die USA, präsent sind und die Gefahr einer Kollision vermieden werden muss. Weiter sind da die Themen Iran und Nordkorea.

Schließlich könnte man in Genf versuchen, den ganz normalen diplomatischen Dialog wiederherzustellen und den Botschaftskrieg zu beenden, der seit vielen Jahren zwischen den beiden Ländern geführt wird. Dieser Krieg begann unter Obama, erhielt unter Trump einen Schub und geht unter Biden weiter. Es geht um die Rückkehr der Botschafter nach Moskau und Washington und das Funktionieren konsularischer Dienste, die für normale Bürger wichtiger sind als hochkarätige politische Konflikte.

Und dann gibt es eine Reihe von Fragen, denen man sich einfach stellen muss, will man zu Hause keine Probleme bekommen. Biden wird die Ukraine-Frage ansprechen, obwohl hier kaum Chancen auf eine Einigung bestehen. Im Bezug auf Russland gibt es Menschenrechtsfragen, die Biden und seinen Unterstützern in den USA grundsätzlich wichtig sind, vielleicht Fragen zu Alexej Nawalny und ähnlichem. Auch auf russischer Seite gibt es solche Themen. Etwa die Beteiligung der USA am Attentatsplan auf Alexander Lukaschenko, Fragen zu Amerikas Vorgehen in bestimmten Regionen der Welt. Die Positionen sind hier festgezurrt, also dürfte es kaum über das gegenseitige Darlegen der offiziellen Positionen hinaus gehen.

Sie haben über eine Normalisierung der diplomatischen Beziehungen gesprochen. Im Westen hört man oft, dass der Kreml den Eisernen Vorhang senkt und damit die Bewegungsfreiheit seiner Bürger und ihren Kontakt mit Bürgern der europäischen Länder verhindert. Sehen Sie ein solches Problem?

Wissen Sie, auch ich habe viele Fragen zur russischen Politik. Aber wir dürfen in diesem Fall nicht vergessen, dass der diplomatische Krieg vom Westen initiiert wurde, nicht durch Russland. Maßnahmen zu einer verringerten Präsenz westlicher Diplomaten in der Russischen Föderation waren immer eine Reaktion auf die Ausweisung von russischen Diplomaten. Hier kann man darüber streiten, ob es um echte Diplomaten geht oder diese verdeckt andere Funktionen hatten, aber dennoch war der Westen Initiator des diplomatischen Kriegs.

Im Allgemeinen ist es falsch zu glauben, dass diplomatische Beziehungen so etwas wie ein Gefallen sind, die man der anderen Seite tun kann oder eben nicht. Das ist eine falsche Meinung, selbst wenn wir davon ausgehen, dass einige Diplomaten noch andere Funktionen haben. Hier gibt es einen alten Ausspruch von Niccolo Machiavelli, wonach man seine Freunde nahe, seine Feinde aber noch näher halten soll. Ich glaube, dass die Pflege solcher Kontakte für beide Seiten von Vorteil ist. Je schlechter die Beziehungen sind, desto intensiver sollten solche Kontakte sein, um Risiken zu vermindern und Fehler zu vermeiden. Außenpolitik wird jetzt weitgehend unter Umgehung der Botschaften betrieben, also in den Außenministerien.

Daher bin ich wie gesagt der Meinung, dass es schön wäre, wenn man zumindest die Eskalation dieses Diplomatenkriegs in Genf stoppen könnte und nach und nach die vollständige diplomarische und konsularische Präsenz wiederherstellt. Wie schnell das möglich sein wird, ist schwer zu sagen. Aber ich denke, dass beim aktuellen Zustand der Normalbürger viel verliert, der streng genommen mit der ganzen Politik nichts zu tun hat und auch nicht das Opfer der Fehlentscheidungen seiner Führer sein sollte.

Die letzte Frage bezieht sich auf den jüngsten Vorfall mit der erzwungenen Landung eines Flugzeugs in Weißrussland. Wird sich dieser Vorfall auf den russisch-amerikanischen Dialog auswirken?

Natürlich ist das, was in Belarus passiert ist, ein äußerst unangenehmer Vorfall für Russland, das davon indirekt betroffen ist. Aber auch hier ist es immer noch schwer zu sagen, wie stark die russische Regierung hier mit der Position Weißrusslands solidarisch ist. Es ist klar, dass es Unterstützung gibt, aber wie umfassend, konsequent und tatkräftig diese Unterstützung sein wird, ist noch unklar. Ich hoffe, dass dieses Ereignis bei all seiner Bedeutung die Vorbereitungen für den Gipfel in Genf nicht ersthaft beeinträchtigt. Es ist möglich, dass das Thema dort zur Sprache kommt und einige der russisch-amerikanischen Kontakte werden Diskussionen über die Ereignisse in Belarus beinhalten. Aber ich denke immer noch, dass Belarus bei der Außenpolitik der Vereinigten Staaten keine so hohe Priorität hat. Es gibt viele andere Probleme, die bedeutender sind als Belarus, so wird das Thema ein komplizierter Aspekt sein, aber ich hoffe nicht von grundsätzlicher Bedeutung.

Man wird sehen, wie sich die Ereignisse in Weißrussland weiterentwickeln werden. Man wird sehen, welche Positionen die Minsker Führung in Zukunft einnehmen wird. Ich hoffe sehr, dass in den nächsten Wochen nicht etwas Schreckliches in der Welt passiert, dass dieses Treffen in Frage stellt oder ihm einen negativen Impuls gibt. Natürlich ist grundsätzlich auf dieser Welt alles möglich und wir können unvorhersehbare Ereignisse nie ganz ausschließen.

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