Aufregend war das Leben

Literatur „Hamburg. Sex City“ – Joachim Bessings charmante Chronik eines Zugezogenen
Ausgabe 11/2021
Es ist eine Geschichte von Freunden, die vor allem im Nachtleben Identität finden. Das konzentrierte sich im Stadtteil St. Pauli, für den Anfang der 1990er noch lange nicht galt, was Rocko Schamoni mit seinem Ausspruch „Alles, was laut und scheiße ist, findet hier statt“ pointierte
Es ist eine Geschichte von Freunden, die vor allem im Nachtleben Identität finden. Das konzentrierte sich im Stadtteil St. Pauli, für den Anfang der 1990er noch lange nicht galt, was Rocko Schamoni mit seinem Ausspruch „Alles, was laut und scheiße ist, findet hier statt“ pointierte

Foto: imagebroker/IMAGO

Es ist jetzt zwei Jahre her, da ergänzte der Schriftsteller Joachim Bessing das Angebot an BRD-Nostalgie-Produkten um ein kleinformatiges Büchlein, Bonn. Atlantis der BRD genannt. Ein vergnügliches Werk war das, schamlos nostalgisch und vor allem in der ersten Hälfte mit den Codes versehen, die alle über Vierzigjährigen, die Bewohner der Bonner Republik waren, in den Erinnerungsmodus brachten: ach ja, der erste Farbfernseher, ach ja, das Blau der Nivea-Dose, ach je, Franz Josef Strauß, ach je, nur drei TV-Programme.

Ungefähr zur selben Zeit veröffentlichten die Goldenen Zitronen das Video zu ihrem Song Das war unsere BRD, anti-identitätsstiftend im Vergleich zur Bessing’schen Samtigkeit, aber für Zitronen-Verhältnisse geschmeidig und zugänglich. Das mit der BRD hatte sich 1989 mit dem Mauerfall und der eiligen Zerschlagung der DDR erledigt, und kurz darauf begann auch für den Schwaben Bessing ein neues Leben, in Hamburg, der Stadt der Goldenen Zitronen, wo Punk schon lange kein Fun mehr war und Subkulturen nur noch ironische Zitate in der Diskursmasse der Hamburger Schule – Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein, sang die immer schon onkelhafte Band Tocotronic 1995. Da war Helmut Kohl Kanzler, wie schon seit 1982. Bleierne Zeit.

Mit Hamburg. Sex City dreht Bessing eine weitere Retroschleife. Der Autor, Jahrgang 1971, der einst, anno 1999, mit einigen Gleichgesinnten unterschiedlichen Kalibers (von dem Groß-Schriftsteller Christian Kracht bis zur heutigen Bild-Ulknudel Alexander von Schönburg) und dem Buch Tristesse Royale auf der Lifestyleglatze schicke Locken drehte, ist in einem Alter angelangt, in dem er lieber lässig in den Rückspiegel schaut als in die Wahrsagerkugel. Und dieser Blick zurück, ganz ohne Zorn, steht ihm gut, so wie einer dieser Maßanzüge, die man zu Beginn der nuller Jahre zu brauchen glaubte, um sich erwachsen zu fühlen. Elegant, wenn auch ein bisschen blasiert. Anfang der Neunziger hatte, wer in Hamburg modemäßig was auf sich hielt, zu Hause eine Retro-Kollektion mit Trainingsjacken, Cordhosen und Sneakern, später dann gern gegen den Second-Hand-Anzug mit Schlag eingetauscht, vorgeblich ironisch weiterhin mit Sneakern getragen. Man darf sich also glücklich schätzen, dass die drei Dutzend Fotos von Christian Werner, die den Text fein ergänzen, keine Kneipenszenen von anno dazumal zeigen, sondern eine eklektische Mischung aus eher aktuellen Hamburger Impressionen.

Eine Art Geschichte hat Bessing auch zu erzählen, sie speist sich aus seiner eigenen. Es ist eine Geschichte von Freunden, die vor allem im Nachtleben Identität finden. Das konzentrierte sich im Stadtteil St. Pauli, für den Anfang der 1990er noch lange nicht galt, was Rocko Schamoni mit seinem Ausspruch „Alles, was laut und scheiße ist, findet hier statt“ pointierte: Die Abwirtschaftung des Viertels zu einer weiteren Event-Fläche, auf der sich die People das Astra oder den Kleinen Feigling reintun. Aufregend war das Leben im Sorgenbrecher, im Tempelhof oder im damals noch im Schanzenviertel beheimateten Pudel-Club. Doch wo immer man auch war, man nahm die frühabendlichen Diskurse aus der WG-Küche mit.

Angenehm absichtslos und keinem allzu offensichtlichen Strukturprinzip folgend kommt Bessing daher (Sexszenen gibt es übrigens keine, der Titel leitet sich von einem Song der Band Pulp ab), was es etwas überraschend macht, dass dann noch eine tragische Dimension dazukommt: Der Freundeskreis bröckelt, ein Mädchen namens Elektra (alle Figuren tragen hier – ein wenig prätentiös, aber nicht weiter störend – die Namen mythologischer Figuren) begeht Selbstmord. Am Ende ist Hamburg. Sex City eine so eloquente wie elegante „Erkundung des eigenen Verwirrtseins“, wie Joan Didion es genannt hätte, deren Gefallen dieses Bändchen sicherlich finden würde.

Info

Hamburg. Sex City Joachim Bessing, Christian Werner Matthes & Seitz 2021, 188 S., 16 €

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