A
Arendt „Was machen Sie? Nichts. Ich lasse das Leben auf mich regnen.“ Dieses Zitat ist von Rahel Varnhagen. Hannah Arendt schrieb eine Biografie über die Jüdin, die hundert Jahre vor ihr lebte und die sie als ihre enge Freundin bezeichnete. Arendt geht hart mit der Berliner Salonière ins Gericht. Sie problematisiert die jüdische Assimilation, indem sie zwei analytische Begriffe nebeneinanderstellt: Paria und Parvenü. Parias sind Außenseiter. Der Parvenü ist ein Emporkömmling (➝ Reims), der zwar zu Reichtum gekommen ist, aber an dem die Herkunft haftet. Aufgrund des antijüdischen Umfelds nimmt Varnhagen zunehmend Selbstbetrug in Kauf. Professionelle Lügnerin, mehr Anekdote als echter Mensch. Doch spät besinnt sie sich, findet zu ihrem Dasein als Jüdin und Paria zurück.
Den Weg ihrer Freundin aus der Vergangenheit zeigt Arendt als Vision eines bewussten Parias auf, der gerade durch seine Außenseiterposition politisch Einfluss nehmen kann. Johanna Montanari
B
Bundesliga Im deutschen Fußball hat man es nicht so mit Erfolgsleitern. Stattdessen nimmt man in der Sportart, die wie keine andere den Wandel vom proletarischen Vergnügen zum gut betuchten Business internalisiert hat, den Fahrstuhl. Wenn unbedingt nötig. Denn falls man ihn nehmen muss, geht es aus Perspektive der 18 Erstliga-Vereine abwärts. Und obgleich sich unter den sogenannten „Fahrstuhlmannschaften“ – also denen, die besonders häufig ab- und manchmal auch wieder aufsteigen – einige Vereine mit viel Tradition tummeln, möchte man mit letzterer doch gerne brechen. Wo früher Scheitern dazugehörte (➝ Kevin), soll heute vor allem gewonnen werden. Dass sportlicher Erfolg nicht planbar ist, mag zwar ein Binse sein, aber wahrscheinlicher machen kann man ihn doch. So tut die Liga viel dafür, dass die, die drin sind, auch drin bleiben, profitabel kicken und ihr Vermögen mehren können. Und falls doch mal jemand aufsteigt, sollte er besser das nötige Kleingeld mitbringen. Da ist man ganz nah am echten Leben. Ein Volkssport eben. Jan Jasper Kosok
F
Fallhöhe In Aristoteles’ Poetik steht geschrieben, dass in der hohen Gattung der Tragödie nur Leute von hohem Stand vorzukommen haben. Adlige zum Beispiel. Weil diese Menschen tief fallen können. Und die anderen? Das wären Leute, deren Stand sowieso ein niederer ist, weshalb sie gut in eine Komödie passen. Ab dem 18. Jahrhundert ändert sich das. Es gibt nun auch bürgerliches Personal in der Tragödie, etwa in Lessings Emilia Galotti. Dass diese Geschichte schlecht ausgeht, weiß man. Und auch, dass es ein Adliger ist, der hier den Bösewicht gibt. Und Emilia, ja, zu Fall bringt (➝ I love you). Mitsamt ihrem Vater.
Man könnte sich nun fragen, ob es erstrebenswert ist, tragödientauglich zu werden. Ist aber wahrscheinlich müßig, denn was soll man schon gegen die gesellschaftliche Evolution machen? Tief fallen können wir jetzt alle, das hat Vorteile, aber auch Nachteile: tief fallen zu können zum Beispiel. Vielleicht sollte man die Fallhöhe, die uns jetzt alle betrifft, als ganz normales Risiko sehen. Vielleicht aber sollte man auch nicht nach zu Hohem streben, schließlich geht’s dann umso tiefer bergab. Mladen Gladic
H
Hochstapler Auf einer längeren Autofahrt lauschte ich den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull (➝ Arendt), gelesen vom Meister selbst. Thomas Mann war ein genialer Vorleser. Wie sehr einen Tondokumente aus vergangenen Zeiten immer noch entzücken können! Er liest ausgewählte Kapitel aus dem unvollendeten Schelmenstück, zum Beispiel die zum Brüllen komische Szene: Krull vor der Musterungskommission („Ja, so ist es, Herr Lazarettkommandant!“). Krull ist in unserem Kollektivgedächtnis nostalgisch verschüttet, die meisten denken, er sieht aus wie Horst Buchholz. Er macht Karriere in der Hotellerie und sich hier näher bekannt mit feinen Damen, was man auch Hochschlafen nennt. Katharina Schmitz
I
I love you Aufsteiger und ➝ Hochstapler sind kaum zu trennen, weil in ungleicher Gesellschaft Aufstieg nur durch Tricksereien gelingt. Davon zeugt I Love You Phillip Morris. Steven verliebt sich in Phillip Morris. Er glaubt an den „Konsum der Romantik“(Eva Illouz): Nur mit Gaunereien kann er Liebesbeweise finanzieren. Doch was, wenn er ihn nicht richtig liebt? Auf einem Boot gibt’s zwar einen Blowjob, doch die Belohnung spuckt Phillip ins Meer. „Du liebst mich nicht“! Stimmt, meint doch Liebe Inkorporation des Anderen. Ach, immer gibt es jemanden, der nicht schlucken will, dass der Aufsteiger es verdient hat, endlich geschätzt und geliebt zu werden. Wolfgang M. Schmitt
K
Kevin Kevin Hönicke lebt den alten SPD-Traum: Aufstieg durch Bildung. Der SPD-Fraktionsvorsitzende im Berliner Bezirk Lichtenberg wuchs in einer Platte in Hellersdorf auf. Vom Kfz-Mechaniker wurde er zum Mathe- und Physiklehrer – und im Frühjahr zum Kandidaten für den Deutschen Bundestag. Dabei haben es die Kevins in diesem Land nicht leicht. Schon lange geht man davon aus, dass Namen Einfluss auf Erfolg und Bildungschancen haben, weil sie Rückschlüsse auf die soziale Zugehörigkeit erlauben. 2009 belegte das eine Master-Arbeit der Universität Oldenburg, die sogenannte Kevin-Studie. Sie zeigte, dass Lehrer die Vornamen ihrer Schüler mit Vorurteilen verbinden, der Name Kevin wurde am häufigsten mit dem Merkmal „verhaltensauffällig“ assoziiert.
Hönicke hat es trotzdem geschafft. Er war der Erste in seiner Familie, der Abitur gemacht hat, der Erste, der studierte. Doch bei dieser Wahl scheiterte er mit der SPD. Weder ihm noch der SPD gelang es, diejenigen zu überzeugen, für die Kevin Hönicke stehen könnte. Wer aufsteigt (➝ Reims), steigt eben nicht mit seiner Klasse auf, sondern er steigt aus seiner Klasse auf. Marlene Brey
Kulturelles Kapital Was braucht man, um ein Haus zu kaufen? Kapital. Was braucht es, um es in der Gesellschaft zu etwas zu bringen? Kulturelles Kapital. Kapitalaneignung ist das A und O für den Aufsteiger. Nun betreten wir das kulturelle Feld nicht als Tabula rasa; von Geburt an tragen wir ein Label mit uns herum. Manieren, Ausdrucksweise, Stil und Geschmack: Bewusst oder unbewusst verraten sie, woher wir stammen und was wir sind. Sie sind vielleicht ein Bourgeois, ich vielleicht eine Proletin. Als solche hätte ich, um es zu etwas zu bringen, erhebliche kulturelle Investitionen tätigen, schulische und universitäre Bildung akkumulieren und diese dann mit dem entsprechenden Anlage-Sinn (➝ Zufall) verwerten müssen. Wie ein Bankkunde, der bei Vertragsabschluss einen hübschen Kugelschreiber erhält, häuft auch der Aufsteiger kulturelle Kompetenzen der Sozialräume, die er durchschreitet, an. Was man sich davon kaufen kann? Nüscht. Oder alles. Je nachdem. Marlen Hobrack
P
Pfarrers Kinder Das Sprichwort unterstellt Verwahrlosung aufgrund höherer Pflichten. Ich kann nichts über Müllers Vieh sagen, nichts über das Vergnügen, auf den Weiden herumzutollen. Ich kann etwas darüber sagen, zu welcher Freiheit es führt, wenn keine Helikoptereltern über einem herumfliegen, von der Lust an selbst herbeigeführten Detonationen in benachbarten Baugebieten, von der Brüder- und Schwesternhorde, die eine Vorahnung davon gewann, was es heißt, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben und nach dem Essen zu kritisieren, wie wir gerade Lust hatten, vom frühen bis späten wilden Lesen, das zu einer lebenslänglichen Praxis geworden ist, von langer Latenz mit langem Abgang. Hans Hütt
R
Reims Der Hype war groß um Didier Eribons Rückkehr nach Reims. Es galt als Buch der Stunde, als Erklärung für das Erstarken des Rechtspopulismus in Europa, oder warum die Arbeiterklasse in den USA Trump gewählt hatte. Man reduzierte sein Buch auf diese Lesart. Der Franzose reflektiert in seiner Soziografie vor allem aber auch den eigenen Aufstieg aus der Arbeiterklasse. Das geschieht wie eine Epiphanie, die zuweilen den Leser unmittelbar berührt. Als Intellektueller hatte Eribon die Arbeiterklasse mit Marx und Sartre (➝ kulturelles Kapital) glorifiziert. Mit seiner Rückkehr nach Reims, als der Vater stirbt, wird ihm klar, dass er im Grunde das Milieu, über das er schrieb, immer verachtet hat. Wenn jetzt also Kritiker hingehen und Eribons Welterfolg einer neuen, (pseudo-)kritischen Würdigung unterziehen und befinden, der Soziologe bohre vielleicht doch nur recht dünne Bretter, will man fragen, welch verdrängte Verachtung über die eigene Herkunft mitschwingt oder welch bürgerlicher Reflex einsetzt, denn: Es gibt immer eine Klasse, die sich verrät. Katharina Schmitz
T
Tellerwäscher Die Vorstellung davon, mit seinen ganz normalen Bedürfnissen im Regen stehen zu bleiben, fließt ja in diese Geschichte vom Universal Tellerwäscher ein, der keinen anderen Fehler gemacht hat, als ausgerechnet in der Unterhaltungsbranche zu landen. Auch für ihn ist das Leben nur eine Achterbahn, wie für den Chef, die Autoren, Künstler und alle anderen Kollegen, nur dass sein Wagen gar nicht erst ins Rollen kommt.Ein Praktikum ähnelt dem nächsten. Er setzt sich in eines der bunt bemalten Fahrzeuge in der genauso frohen wie bangen Erwartung, dass jeden Moment die Kette unter ihm in ein Schloss greift, er samt Fahrzeug mit dem bekannten Begleitgeräusch in die Spur und auf jene Anhöhe gezogen würde, von der aus das Abenteuer endlich beginnt.
Das ist ja das Versprechen, das der Kapitalismus macht: nicht dass jeder Millionär (➝ Bundesliga) wird, aber langweilig wird es dafür nie. Erst kommt die rasante Abfahrt und direkt im Anschluss eine Steilkurve, in der sich die G-Kräfte so richtig entfalten könnten. Er wird vor lauter Aufregung vergessen, ob er schon gefrühstückt hat. Doch die Realität sieht anders aus: Wieder macht es Klack unter seinem Wagen, aber das Schloss rastet nicht ein und er bleibt, wo er ist. Links und rechts fahren andere los. Der Magen knurrt. „Du musst dich mehr anstrengen“, rufen sie ihm zu. Was soll er tun? „Probier es mit einer anderen Bahn.“ Aber auch dort kommt er nicht zum Zug, weil einfach zu wenige Wagen starten. Er bleibt, was er ist: ein Universal Tellerwäscher. Frank Spilker
Der Autor ist Gründer der Band Die Sterne, Universal Tellerwäscher ein Song von 1994
Z
Zufall Ehrgeiz, Fleiß und harte Arbeit. Dann kommt der Erfolg, der berufliche Aufstieg von alleine. Meint man jedenfalls. Doch oftmals spielt ein weiterer Faktor die entscheidende Rolle: der Zufall. Eine Begegnung oder ein Ereignis, das unvorhergesehen den letzten Stein auf dem Weg zum Ziel setzt.
„Die Treppe nach oben fallen“, wie unser Anzeigenchef zu sagen pflegt. Im Fall von Lyndon B. Johnson war es ein tragischer. Der Tod. Noch mit dem Sarg des erschossenen John F. Kennedy an Bord wurde Johnson auf der Airforce One als 36. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika vereidigt. Dieser Tag jährt sich am 22. November. Wäre Johnson auch ohne das Attentat ins Weiße Haus gezogen? Wohl kaum. Obwohl er während der Nominierung zur Präsidentschaftswahl ein angesehener Politiker war, konnte er mit dem Charme des Kennedy-Clans nicht konkurrieren. Also blieb ihm nur die Vizepräsidentschaft. Der Zufall als Sprungbrett zum zweifelhaften und folgenreichen Aufstieg. Vera Deleja-Hotko
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