Es gibt kaum noch ein Stadttheater, das nicht eine Autorenwerkstatt durchführt, einen Dramatikerworkshop veranstaltet, einen Stückauftrag vergibt oder einen Stückepreis auslobt. Heutzutage müssen neue Stücke nicht lange auf ihre Uraufführung warten: die Probe- und Studiobühnen der deutschsprachigen Theaterlandschaft stehen ihnen weit offen. Auf deren große Bühnen gelangen sie dagegen selten, und nachdem der werbewirksame Zusatz "Uraufführung" verbraucht ist, erleben sie kaum einmal eine Neu-Inszenierung.
In Wien allerdings hat eine Theaterreform, die Bewegung in die erstarrte (freie) Theaterlandschaft bringen wollte, nicht nur die ehemalige "dietheater"-Bühne unter dem Namen "Brut" zu einer Spielstätte für vielfältige pe
8;ltige performative und dokumentarische moderne Spielweisen gemacht, sondern auch dem Schauspielhaus Wien eine neue Aufgabe unter dem Motto "Schauspielhaus ist Gegenwart" zugewiesen.Das kleine Theater in der Porzellangasse, in dem nicht nur George Tabori mit seinem Theater "Der Kreis" experimentierte, sondern das auch in den neunziger Jahren (unter Hans Gratzer) Stücke von Marlene Streeruwitz vorstellte und Werner Schwab entdeckte, soll und will, nachdem zuletzt Airan Berg und Barrie Kosky hier eine Art interkultureller internationaler Koproduktionsbühne betrieben haben, unter seinem neuen Künstlerischen Leiter Andreas Beck (zuvor etwa Dramaturg am Schauspielhaus in Hamburg und am Burgtheater) als Theater der Zeitgenossen ein Autorentheater sein. Beck knüpft an eine Behauptung von René Pollesch an, wenn er betont, "dass wir uns nur in der Gegenwart wiederfinden und nur die Gegenwartsdramatik uns bestimmte Fragen beantwortet." Es ist die Generation der 30- bis 40-Jährigen, die sich im Schauspielhaus schreibend, inszenierend und spielend mit der Welt und dem Theater auseinander setzt. Einen ästhetischen Kanon oder eine thematisch-politische Festlegung gibt es nicht bei einem Spielplan, der aus acht bis neun Premieren pro Spielzeit besteht und von nur sechs jungen Schauspielern, die gelegentlich von Gastschauspielern unterstützt werden, ganz allein "erspielt" wird. Polyphon soll das Schauspielhaus sein. So erlebt man Dialoge und gebaute Szenen wie bei "Beziehungsstücken" von Volker Schmidt (Die Moutainbiker) und Tine Rahel Völcker (Die Eisvögel), eher ausufernde, krude und rotierende Textflächen wie bei Ewald Palmetshofer (wohnen. unter glas und hamlet ist tot. keine schwerkraft), Erinnerungs- und Reflexions-Monologe wie bei Iwan Wyrpajew (Juli) und Claudius Lünstedt (Krieger in Gelee), aber auch filigran poetische Texte wie Gerhild Steinbuchs schlafengehn und unerschrocken gefühlssucherische wie bei Anja Hillings Schwarzes Tier Traurigkeit. In der vergangenen ersten Spielzeit stand neue österreichische Dramatik (von Händl Klaus, Johannes Schrettle und den Hausautoren Ewald Palmetshofer und Gerhild Steinbuch) im Zentrum, aber es kam mit Philipp Löhles Die Kaperer oder Reiß nieder das Haus und erbaue ein Schiff auch ein flott realistisch-komödiantisches Stück über eine Generation zwischen Ökologie und Ökonomie, zwischen Ausstieg und Karriere zur Uraufführung. Alles, was noch jung ist und (teils) schon einen Namen hat, führt am Schauspielhaus Regie: Felicitas Brucker, Jette Steckel, Daniela Kranz, Thomas Schweigen, Florian Flicker, Alexander Charim, Sebastian Schug, Barbara-David Brüesch. Das Autorenprojekt "Stück für Stück" führt junge Autoren und Theatermacher in der Arbeit, so dass ein junger Autor wie Ewald Palmetshofer bei Werkstatt-Tagen mit dem renommierten Schauspieler Joachim Meyerhoff arbeiten kann. Andreas Beck ist deutlich daran interessiert, gelegentlich ihre Texte ohne jegliche Theatererfahrung verfassende Autoren mit dem real existierenden Theater in produktiven Kontakt zu bringen. Die oft nicht nur neuen, sondern auch recht komplexen Schreib- und Spielweisen interessieren das Publikum deutlich, das Programm des Schauspielhauses scheint angenommen und das Publikum altersmäßig gut durchmischt. Das Theater besitzt mit seinen 180 Plätzen im Parkett und seinen 40 auf dem Balkon gerade die richtige Größe, um eine angenehme, fast intime Atmosphäre auszustrahlen. Bei einem Etat von 2,2 Millionen (von der Stadt und von Sponsoren), leistet man sich keine großen Bühnenbilder, sondern spielt meist nur mit Ton, Licht und dem offenen Raum. Was allerdings der letzten Uraufführung, Claudius Lünstedts aus drei halbstündigen Monologen zusammengesetztem Krieger in Gelee, nicht unbedingt gut bekam. Angeregt durch Lautréamonts Die Gesänge des Maldoror, lässt der 35-jährige Autor in seinem Stück drei Figuren zurück blicken. Der junge Mervin erzählt von seiner Unwilligkeit, am von seinen Eltern vorgelebten konsumistischen Lebenskampf teil zu haben. Er ging zu einem Treffen mit dem unbekannten Briefeschreiber Martin, der ihm seine Liebe und eine Reise hinaus aus seiner engen Welt versprach, sich aber als ein isoliert in sich versponnener Mann entpuppte, in dessen Hirnwindungen kleine "Krieger" herumgeistern. Da sie ihm zuflüstern, es existiere kein Unterschied zwischen Gut und Böse, entführt Martin Mervin und tötet ihn. Im dritten Monolog berichtet die Freundin des unter dem Wissen von der Mordtat seines Freundes Martin leidenden Dieter von ihren vergeblichen, auch brieflichen, Versuchen, Dieter zu helfen. Ob dieser schließlich geflüchtet ist oder Selbstmord begangen hat, bleibt offen. Lünstedts Figuren sprechen eine Kunstsprache, die mit ihren unvollständigen Sätzen auf der Beschreibungsstelle tritt und zugleich beschleunigend wirkt. Dabei verschweigen die an Beichten gemahnenden, unter Druck hervorbrechenden Erklärungen ebenso viel wie sie erzählen. Regisseurin Daniela Kranz zeigt anfangs zum Gloria einer Passionsmusik assoziative Videosequenzen, dann steht Mervin in seiner Unterrichts-Fechtkleidung mit dem Degen in der Hand allein auf leerer Bühne und durchdenkt seine Existenz. Auch die anderen beiden stehen nach ihren Videosequenzen isoliert und frontal vor dem Publikum. Während der denkende Mörder Martin, ganz in existentialistischem Schwarz, so leise wie spannungslos seine Gedanken ausbrütet, "spielt" Katrin als einzige, sie hantiert mit Briefen, wird in den beiden seitlichen Spiegeln und im Videobild gespiegelt und spiegelt in ihren Erzählungen die Haltungen auch der anderen.Zwar geriet die Lektüre des Stückes spannender als dessen szenische Realisierung, doch in einem Labor des Gegenwartstheaters, als das sich Schauspielhaus Wien auf einzigartige Weise darbietet, können nicht alle Versuche gleich gut gelingen.
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