Aus dem Leben der Steine

Ausstellung Historische Bauwerke vor und nach ihrer Wiederherstellung: "Geschichte der Rekonstruktion. Konstruktion der Geschichte“ in der Münchner Pinakothek der Moderne

Wer heute durch den romanischen Kaiserdom von Speyer geht, wird mit gewissem Erstaunen hören, dass große Teile des Bauwerks nicht aus der Romanik, sondern dem 18. Jahrhundert stammen. In den pfälzischen Erbfolgekriegen war das Längsschiff des Doms zerstört worden und blieb 100 Jahre lang Ruine; dann, mitten im Rokoko, ordnete der zurückgekehrte Bischof den Wiederaufbau dieser Grablege der deutschen Kaiser an – natürlich in der ursprünglichen Gestalt.

So ist das mit vielen Bauten, die unseren Alltag symbolisch mit Geschichte aufladen: Der Campanile auf dem Markusplatz von Venedig, der 1902 einstürzte, ist ebenso eine Rekonstruktion wie die römische Kirche über dem Grab des heiligen Paulus – nachdem sie 1823 von einem Brand zerstört worden war, verfügte der Papst in einer Enzyklika, sie „wie unversehrt“ wiederherzustellen. Unser Bild der Antike stammt von Bauten, die schon von Griechen und Römern haltbar gemacht oder umgestaltet wurden; die Geburtshäuser von Luther oder Goethe sind historisierend renoviert; nach dem Ersten Weltkrieg wurden im belgischen Ypern mittelalterliche Stadtteile originalgetreu nachgestaltet.

Die großartige, weit ausgreifende Ausstellung Geschichte der Rekonstruktion. Konstruktion der Geschichte in München zeigt anhand von gut 200 bebilderten Fallbeispielen, wie historische Bauwerke vor und nach der Wiederherstellung aussahen: oben das Original (soweit Stiche oder Fotos vorhanden), in der Mitte die Ruine, unten die Rekonstruktion. Zeit und Klima fressen an den Bauten, Krieg, Brand und Erdbeben zerstören; und jeder Wiederaufbau, das belegt die Schau, ist eine Kon­struktion von Geschichte, die einen bestimmten Forschungsstand wiedergibt.

Zeichen neuen Selbstbewusstseins

Bei den Schwerpunktthemen gibt es auch Modelle, Zeichnungen und Filme. Den größten Raum beanspruchen dabei die Sakralbauten. Zweites großes Thema bleibt die nationale Identität; die Debatte um das Berliner Stadtschloss und um den Abriss des Palasts der Republik wird jedoch fast ausgespart – stattdessen schaut man nach Litauen oder in die Ukraine, wo national bedeutsame Bauten aus der Zeit vor dem Realsozialismus wieder aufgebaut werden, als Zeichen neuen Selbstbewusstseins. Die Kuratoren werfen auch einen Blick nach Asien: Dort wird Rekon­struktion ganz anders begriffen – nämlich als das Erhalten der Fähigkeit, bestimmte Bauten auszuführen. In Japan wird der Ise-Schrein seit 1300 Jahren alle 20 Jahre präzise neu gebaut – und der Vorgängerbau anschließend abgerissen.

Einem solch spirituellen Architekturverständnis stellt die Ausstellung die europäische Indienstnahme von Baudenkmälern gegenüber. Der Mainzer Markt etwa besteht aus lauter historischen Fassaden – dahinter stehen Kaufhäuser aus Beton. Den Abschluss bilden einige Kompromisse aus jüngerer Zeit, Großtaten der Versöhnung von historischer Substanz mit der Moderne; der portugiesische Architekt Álvaro Siza baute die 1988 abgebrannte Altstadt von Lissabon atmosphärisch korrekt wieder auf, modernisierte aber die Wohnräume. Giorgio Grassi verpasste dem Amphitheater im spanischen Sagunt eine moderne Verkleidung, um die lange gestritten wurde. Und Aldo Rossi machte aus dem 1996 abgebrannten La Fenice in Venedig ein neues Theater im alten Gewand.

Geschichte der Rekonstruktion. Konstruktion der Geschichte. Bis 31. Oktober. Pinakothek der Moderne, München

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