Aus dem Mund der Wagmuhawin

Offene Gesellschaft Mary Louise Defender Wilson hält die Erinnerung an die Kultur der Dakota-Indianer lebendig

Geht man nach dem nicht nur in Deutschland verbreiteten Klischee, dann hat man sich unter einem Indianer typischerweise einen stolzen Krieger vorzustellen, der einst auf seinem wendigen Mustang Bisons jagte, als Medizinmann die Klapperschlangenrassel schwang und unter dem Kommando eines federhaubengeschmückten Häuptlings auf Pferde- und Frauenraub aus war.

Die Nachfahren dieser imaginären Prärie-Ritter fristen heute nur noch ein armseliges Leben in den Armutszonen des amerikanischen Kapitalismus. Die Lebensrealität der in Hunderte von kleinen Nationen verstreuten amerikanischen Ureinwohner droht hinter solchen Populärmythen zu verschwinden. Die Perspektive der "Native Americans", euphemistisch "First Nation" genannt, wird kaum wahrgenommen. Ein wirksames Gegengift sind jene Geschichten, die sie sich noch heute erzählen.

Eine Bewahrererin der mündlichen Überlieferung der Dakota-Sioux ist Wagmuhawin oder Mary Louise Defender Wilson, wie ihr englischer Name heißt. Die heute 78 Jahre alte Frau wurde im Mittleren Westen der USA geboren und wuchs in Porcupine, einem kleinen Ort in der Standing Rock Reservation in North Dakota auf. Als Lehrerin der Dakota-Sprache und Radiomoderatorin engagiert sie sich seit vielen Jahrzehnten dafür, dass die Überlieferung ihres Clans lebendig bleibt.

Zwei Arten von Geschichten sind es, die der Ethnologe Michael Schlottner der Erzählerin vom Munde abgelauscht, auf Tonband dokumentiert und in einer lebendigen Schriftprosa wiedergegeben hat. Die einen heißen "Ohunkankan" und führen in eine ferne Vergangenheit, als die Menschheit noch jung war und ihre ersten überlebenswichtigen Lektionen von den Tieren lernte. Historische und biographische Erzählungen sind dagegen im Begriff "Wichao´oyake" zusammengefasst. Letztere künden nicht zuletzt von der Widerstandskultur indianischer Gesellschaften, von denen die Geschichtsschreibung der euroamerikanischen Eroberer seit nunmehr gut 250 Jahren immer wieder behauptet, ihre heutigen Angehörigen seien die letzten einer unausweichlich zum Sterben verurteilten "Rasse".

In der Titelgeschichte Die Welt wird niemals enden berichtet Wagmuhawin von einer prägenden Erfahrung ihrer eigenen Kindheit. Damals schreckten sie die Worte christlicher Prediger, die das Schicksal böser Menschen heraufbeschworen, denen nach dem Ende ihres Lebens ein Aufenthalt in der Hölle bevorstand. Das Mädchen weinte, weil es fürchtete, später selbst in diese Hölle zu kommen. Doch fand es damals den Trost seiner Mutter. Die Predigerworte seien für Leute bestimmt, die nicht zu den Dakota gehörten. Denn diese fürchteten den Tod nicht, da sie wüssten, nach ihrem Ableben endlich an den Ort zu gelangen, wo sie von allen ihren verstorbenen Ahnen empfangen werden würden.

Ihre deutschen Leser mögen überrascht sein, dass sich in Wagmuhawins Geschichten die Gesellschaft ihrer Ahnen viel demokratischer zeigt, als sie es aus unzähligen Romanen, Western und selbst Dokumentationen gewohnt sind. "Häuptlinge" dürfen kaum etwas bestimmen. Die Geschichten berichten von Ratsversammlungen, in denen das Wort der Oberhäupter nicht gewichtiger ist als das der gewöhnlichen Clan-Genossen. Frauen erscheinen in den Erzählungen nicht als unterwürfige "Squaws", sondern als gleichberechtigte Personen.

Die Dakota leben, abgesehen von Jagdzügen, auch nicht in Tipis, sondern in festen Siedlungen, wo sie Gartenbau betreiben. Wir begegnen keinen "Edlen Wilden", sondern Menschen aus Fleisch und Blut, die untereinander Konflikte austragen und sich unter schwierigen Umweltbedingungen behaupten müssen. Trotzdem: Liest man ihre Geschichten durch die politische Brille, dann ermöglichen sie einen faszinierenden Einblick in die kollektive Gedanken- und Vorstellungswelt einer Zivilisation, die ihr Überleben viele Jahrhunderte lang ohne politische Herrschaft und ökonomische Ausbeutung zu sichern verstand.

Die Welt wird niemals enden. Geschichten der Dakota. Erzählt von Mary Louise Defender Wilson. Aus dem Englischen und dem Wichiyena-Dakota übersetzt und herausgegeben von Michael Schlottner. Insel, Frankfurt am Main 2008, 207 S., 17,80 EUR

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