Aus der Nähe so fern

Die kleinen Geschichten Alex Capus Roman "Mein Studium ferner Welten"

Ach wie nah liegen sie, diese fernen Welten, von denen Alex Capus in seinem neuen Roman, seinem dritten Buch nach dem Romandebüt Munzinger Pascha (1997) und dem Band Eigenmönchundjungfrau (1998), erzählt?! - So aufdringlich nah geradezu wie jenes "Dunkel des gelebten Augenblicks", über das Ernst Bloch seinerzeit philosophiert und das der Bloch-Freund Lukács als "schädlichen Raum der unmittelbaren Gegenwart" immer wieder so hart attackiert hat. Man muss schon über ein ganz besonderes Sensorium verfügen, über jenes zarte Pflänzchen der Sensibilität, die all jene Idiosynkrasien unter den Zeitgenossen, liebenswerte Spinnereien und insgesamt das Abseitige im Alltäglichen aufzuspüren und wahrzunehmen in der Lage ist. Capus verfügt darüber, und er schreibt über jene Provinzecke in der Schweiz, die wir alle schon zu kennen glauben und die doch so neu und anders ausschauen kann, wenn uns fremde Blicke darauf zu leiten vermögen.

In Capus´ Roman ist eine Kleinstadt abseits der großen Straßen und Zugverbindungen Ort des Geschehens; längst brausen die Intercity-Züge durch den verwaisten Bahnhof, in dem einzig noch "der mottenzerfressene Kellner" René "seit Menschengedenken" ausharrt, dort Johnny Türler, den endlich heimgekehrten Tramp und Weltenbummler, bedient, ansonsten aber Zeitung liest "und mit einem Bleistift (...) Zahlen in ein kariertes Schulheft" schreibt. Denn René hält peinlich genau Tag für Tag die Zahl der namenlosen Toten und Verunglückten fest, von denen die Presse berichtet - und das bereits seit dem 7. Juli 1971.

Man kann das durchaus modellhaft verstehen; so wie nämlich René durchs pure Notieren der Toten gedenkt, ebenso will auch der Roman, will Max Mohn, der Hauptprotagonist, dessen Erinnerungen und Erlebnisse im Mittelpunkt des Erzählreigens stehen, die ›kleinen Geschichten‹, Affären und Begebenheiten festhalten, um eine Erinnerungsspur zu zeichnen. Ihm drängt sich auf, woran andere achtlos vorübergehen; für ihn verdichten sich Menschen und Erlebnisse zu Geschichten, denn der Mensch ist ein erzählendes wie erzähltes Wesen. Eine Erkenntnis freilich, die, von seiner Frau Ingrid formuliert, ihn die Ehe kostet, beinahe sogar, durch sein Verplappern, auch um seine neue Freundin bringt, dem Leser aber einen Sack wunderbarer Erzählungen beschert: etwa die über die alte Alice, die allabendlich männliche Gäste verschiedenen Alters bei sich zu Hause zum Glas Wein empfängt, um im vorgerückten Lebensstadium all jene Entbehrungen zu kompensieren, die sie, noch im jugendlichen Alter zur Witwe geworden, fortan allein lebend und eine Pension führend, hat hinnehmen müssen; oder aber auch die über Mohns Jugendfreund Johnny, den Outcast und Herumtreiber, der schlussendlich in die Provinz zurückgekehrt ist, immer noch von kleinen Mädchen ob der unübersehbaren Zahl seiner Tattoos begehrt wird und die elterliche Confiserie übernehmen soll, der am Ende aber - von René bis zum Vollrausch bedient - irgendwo zwischen Avignon und Marseille in einem Güterwaggon, in den er sich zum Nächtigen verkrochen hatte, aufwacht.

Capus´ Roman steht in bester Tradition neuerer schweizerischer Erzähler und bewegt sich traumwandlerisch sicher zwischen dem härteren realistischen Ton eines Silvio Blatter und dem kauzig-komischen Humoristen Gerold Späth; mit leicht wehmütigem Unterton wird da ein verborgener und zugleich uns allen bekannter Winkel - die Provinz - (wieder-)entdeckt. Und ich möchte darauf wetten, dass da bei Alex Capus noch eine ganze Reihe weiterer Erzählungen stecken!

Alex Capus: Mein Studium ferner Welten. Ein Roman in 14 Geschichten. Residenz-Verlag, Salzburg-Wien-Frankfurt 2001, 205 S., 34,- DM

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