Aus Helden werden Schurken

Frankreich Stand die nationale Fußball-Equipe als Weltmeister 1998 für erfolgreiche multikulturelle Integration, gilt ihr Scheitern 2010 als Beweis für das Gegenteil

Die Kreml-Astrologie – das Spekulieren über die Motive der sowjetischen Politik – ist aus der Mode gekommen. Überlebt hat eine intellektuell noch unbedarftere Variante: die Fußball-Soziologie. Sie beruht auf einem simplen Axiom: Im Spiel von Nationalmannschaften spiegeln sich Zustand und Stimmungslage der Gesellschaft. Nüchtern betrachtet, taugt eine solche Annahme allenfalls zur Satire. Das hält aber die Fußballberichterstattung nicht davon ab, munter weiter zu schwadronieren über den Zusammenhang von Fußball, Politik und Gesellschaft.

Als die Nationalmannschaft 1998 Weltmeister wurde, deklarierten die Fußball-Soziologen das bunte Team aus schwarzen, weißen und vor allem nordafrikanischen Spielern zum Beleg für eine gelungene Integration der Einwanderer. Das Team avancierte zum nationalen Hoffnungsträger und wurde ein Symbol für die multikulturelle Gesellschaft. Die Forscheren unter den Fußball-Soziologen sprachen gar von einer „gesellschaftsbildenden Kraft“.

Eine ebenso bunte Nationalmannschaft hat sich jetzt – mit recht pikanten Szenen am Rande – aus dem Turnier in Afrika verabschiedet. Das versetzte den Hyperpräsidenten Sarkozy umgehend ins mediale Hamsterrad. Seine Sportministerin musste den Spielern den Kopf waschen („moralisches Desaster“), er selbst empfing den Star Thierry Henry wie einen Staatsgast. Für den Oktober steht eine Generalversammlung aller für den Fußball Verantwortlichen an.

Die Fußball-Soziologen hatten kein Problem mit der neuen Lage. Spiegelte sich vor zwölf Jahren in der erfolgreichen Mannschaft die gelungene Integration, standen die Verlierer jetzt für eine vom Neoliberalismus Sarkozys in konkurrierende Clans, Parallel-Milieus und Ghettos gespaltene Gesellschaft, in der es nur noch ums Geld geht.

Der keine Peinlichkeit auslassende Philosoph Alain Finkielkraut verlängerte die Brachialdiagnose zur rassistisch unterlegten Hetze im Stil von Le Pen. Finkielkraut sieht in den farbigen Spielern aus den Banlieues der Städte „eine Bande von Verbrechern, die nur ein Gesetz kennt, das der Mafia“. Im engen Horizont der Fußballsoziologie trennt den Helden vom Schurken genau ein Tor.

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