Aus sich heraus

Im Kino In "L´esquive" von Abdellatif Kechiche spielt eine Gruppe Vorstadtkinder Marivaux

Stolz führt Lydia ihr Kostüm vor, unbefangen trägt sie die Eleganz des 18. Jahrhunderts in die Gegenwart ihrer Nachbarschaft hinein, einer Siedlung in einem der quartiers chauds der Pariser Vorstädte. Das Gefühl, deplatziert zu sein an diesem sozialen Brennpunkt, geniert sie wenig. Sie wird lernen, das Kleid wie eine zweite Haut zu tragen, sich hineinzufühlen in eine fremde, neue Rolle.

Der Moment, in dem der schüchterne Krimo sie beim Feilschen mit dem Schneider entdeckt hat und belauschte, wie sie seltsame, kunstvolle Verse deklamiert, könnte seinem Leben eine andere Richtung geben. Bislang hat der Halbwüchsige sich gelangweilt den Anforderungen der Realität verweigert. Aber nun spürt er ein namenloses Potenzial in sich, auf jeden Fall aber eine bange Verwandtschaft zu dem Mädchen, in das er sich verliebt hat.

Es war womöglich genau diese sachte, erfreuliche Verschiebung des Vertrauten, die Abdellatif Kechiches L´esquive zum großen Gewinner bei der diesjährigen César-Verleihung, den französischen Oscars, werden ließ. Er schert auf besänftigende Weise aus dem Genre des Milieufilms aus, denn er erzählt nicht von der Eskalation der Gewalt, sondern vom alltäglichen Heranwachsen. Nicht das Trauma steht im Zentrum des Films, vielmehr ist es die Begegnung mit der Liebe und der Kunst. Die soziale Realität blendet Kechiche dabei nicht aus, es gibt den obligatorischen Beleg polizeilicher Willkür, aber er bleibt folgenlos, zumindest ohne Tragik.

Die hübsche Utopie, die in L´esquive ausgelebt wird, besteht in der hingebungsvollen Neugier, mit der eine Schulklasse Marivaux´ Das Spiel von Liebe und Zufall einstudiert. Sie empfinden die Hausaufgabe nicht als Oktroy, sondern erledigen sie mit echter Entdeckerfreude. Die Disziplin, die sie für die Proben entwickeln müssen, wird ihnen nicht auferlegt, sie finden sie aus sich selbst heraus.

Die Konfrontation des verlan, jenem erfindungsreichen Slang der Einwandererkinder aus dem Maghreb, mit den Versen Marivaux´ inszeniert Kechiche nicht als Kulturschock, sondern als neugierige Aneignung. Mit der ersten Szene wirft einen der Film gleich mitten hinein in die Raserei eines Wortwechsels im Idiom der beurs, das selbstbewusst einer zweifachen kulturellen Identität Rechnung trägt, in dem es mit einem Code der Umkehrung und Vermischung spielt, den selbst gelernte Pariser ohne Untertitel kaum verstehen.

Kechiches Teenager sprechen in einem Gestus freundschaftlicher Aggressivität miteinander, der unbedingt die Resonanz einer Gruppe braucht. Stets ist ein Chor der Freunde zugegen, der sich als Stellvertreter oder Schlichter einmischt. Nachdem sie in der Schule Marivaux´ Verse gelernt haben, mischt sich eine Wissbegier in ihre Konfrontationen, die Wirksamkeit der Sprache auf die Probe zu stellen.

Die Lehrerin hat sie hellhörig werden lassen für die soziale Komponente des Stückes, für das Innenleben, das Marivaux seinen Figuren jenseits ihre gesellschaftlichen Position zugesteht - welches aber zugleich unentrinnbar an die Herkunft gebunden ist (noch im Rollentausch, hinter der Verkleidung erkennen sie Ihresgleichen). Eine unverhoffte Resonanz, eine ruppige Modernisierung der galanten Sitten des 18. Jahrhunderts gelingt den Schülern, ohne dass Kechiche ihre Geschichte aufdringlich spiegeln müsste in den Liebeshändeln des Stücks. Er vertraut vielmehr auf die Sprache als eigentlichem Handlungsträger: aus ihr entstehen die Konflikte, sie vermag die Gefühle zu verschleiern oder zu enthüllen. In der Aufmerksamkeit für deren Unwägbarkeit, für den Rhythmus aus Wiederholung, Übertreibung und Angriffslust (der Filmtitel ist der Terminologie des Boxens entlehnt: das Ausweichen deutet er in seiner Doppeldeutigkeit von Furchtsamkeit und Strategie) gelingt Kechiche eine schöne Parallelführung. Frédéric Deloffres klassische Definition der Marivaudage - einzugestehen, was man sich selbst nicht eingestehen will, auszudrücken, was bis dahin niemand ausdrücken wollte - übersetzt er in einen Lernprozess, einen Parcours vom Nachsprechen zum Begreifen.

Die eigene Stimme in einer Rolle zu finden, aus sich herauszukommen und dem Blick des Gegenüber nicht auszuweichen: das sind die Lebenslektionen, die Lydia, Krimo und die Anderen lernen dürfen.


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