Ausgeschriebene Zahlen

Berliner Abende Ich bewundere diesen Berliner Lyriker schon seit Jahren, weil man seine Gedichte auch versteht, wenn man nicht Germanistik studiert hat, und heute ...

Ich bewundere diesen Berliner Lyriker schon seit Jahren, weil man seine Gedichte auch versteht, wenn man nicht Germanistik studiert hat, und heute haben wir gemeinsam an einer Lesung teilgenommen. Ein befreundeter Autor stellte uns anschließend vor und nun sitzen wir im Schwarzsauer in der Kastanienallee, trinken Bier, und ich versuche, mir meine Bewunderung für ihn nicht zu sehr anmerken zu lassen. Ich möchte nicht, dass er sich von mir bedrängt fühlt, und deshalb reden wir über ganz andere Dinge als über Literatur. Wir sprechen über Filme und Fußball, über die Dönersaucendreifaltigkeit (Kräuter, Knoblauch, Scharf) und eine Menge anderer Sachen. Es ist eine angenehme Unterhaltung, die fast ganz von selbst läuft, ohne dass wir uns bemühen müssen, und zwischendurch kann ich immer mal wieder unauffällig auf seine Hände schauen, mit denen er seine wunderbaren Gedichte anfertigt.

Und dann das: Ein paar Meter von uns entfernt setzen sich zwei Frauen an einen Tisch. Eine von ihnen ist meine Exfreundin. Das darf doch nicht wahr sein, denke ich, und in diesem Moment sieht sie mich auch und zeigt mir den Mittelfinger. Ich blicke schnell wieder weg. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sie einen Stift und Papier aus ihrer Handtasche holt und etwas aufschreibt. Der Lyriker erzählt mir gerade von vegetarischen Dönerspießen, die er angeblich in Schöneberg gesehen hat, aber ich kann mich nicht mehr richtig auf das konzentrieren, was er sagt, weil sich meine Exfreundin jetzt erhebt und zu uns herüberkommt.

Sie tippt dem Lyriker auf die Schulter.

"Guten Abend", sagt sie.

"Guten Abend", sagt der Lyriker.

"Das ist für Sie." Sie drückt ihm einen zusammengefalteten Zettel in die Hand.

"Danke schön", sagt der Lyriker.

Sie nickt mir kurz zu. "Hallo, Arschloch."

Dann dreht sie sich um, hakt sich bei ihrer Freundin ein, die bereits aufgestanden ist und verlässt mit ihr das Schwarzsauer.

"Das war meine Exfreundin", erkläre ich.

"Starker Auftritt", sagt der Lyriker. Er wirkt kein bisschen verstört. Er faltet den Zettel auseinander und betrachtet ihn aufmerksam.

"Lauter ausgeschriebene Zahlen", sagt er schließlich.

"Darf ich mal sehen?", frage ich.

Er reicht mir den Zettel rüber, und ich werfe einen Blick darauf. "Das ist ihre Handynummer", sage ich. Ich gebe ihm den Zettel zurück.

"Warum hat sie denn die Zahlen ausgeschrieben und nicht einfach Ziffern verwendet?" Er sieht mich fragend an.

"Sie hebt sich gern ein wenig von der Masse ab", antworte ich.

Der Lyriker betrachtet wieder den Zettel. "Ihre Exfreundin hat eine sehr schöne Handschrift. Schauen Sie sich mal diese Sieben an."

Er reicht mir den Zettel ein zweites Mal. Er hat Recht. Ihre ausgeschriebene Sieben hat wirklich einen schönen Schwung.

Ich schiebe den Zettel in die Mitte des Tisches. "Sie können sie ruhig anrufen", sage ich. "Das ist kein Problem für mich."

"Nein, nein", sagt er. "Das werde ich nicht tun."

Eine Pause entsteht, in der keiner von uns beiden etwas sagt.

Schließlich tippt der Lyriker mit dem Finger auf den Zettel. "Diese ausgeschriebene Sieben ... Das könnte der Anfang eines Gedichts sein." Dann sieht er mich ernst an. "Wir sollten noch ein Bier bestellen und uns endlich über Literatur unterhalten."

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