Es erscheint nur folgerichtig, wenn ein Graduiertenkolleg, das sich der Erforschung von Zeiterfahrung und ästhetischer Wahrnehmung verschrieben hat, dem Ereignis eine mehrtägige internationale Konferenz widmet. Die lobende Beschreibung dieser Veranstaltung an der Frankfurter Goethe Universität als "echtem Ereignis" führt geradewegs ins Herzen der Problematik dieses Begriffes, der zugleich fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung ist und mächtigstes Ideologem der Kulturindustrie. Die Versicherung der beiden Veranstalter Nikolaus Müller-Schöll und Kattrin Deufert, man wolle "dem Event-Charakter im Wissenschaftsbetrieb" entgegenwirken, scheint angesichts des ambitionierten Programms, das aus Vorträgen, Kolloquien und mehreren Performances bestand, wie
nd, wie schelmisches Understatement. Auf kongeniale Weise war es den beiden Koordinatoren des Kollegs auf diese Weise gelungen, dass sich Wissenschaft und Kunst, Theorie und Praxis gegenseitig erhellten und verdunkelten. Besonders hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die Moskauer Kollektiven Aktionen, die in ihrer fast dreißigjährigen Praxis immer schon an der Grenze von Kunst und Nicht-Kunst operieren: "Wenn wir gehen, dann gehen wir und es hat keine andere Bedeutung", sagte Sergej Romasko, der mit seinen Mitstreitern sprechende Kartoffelsäcke im Casino des IG Farbenhauses aufstellte, die in der Performancephase auf die Bühne getragen wurden, während er den Zuschauern eine schriftliche Bestätigung ihrer Teilnahme am Happening Abenteuer des Blinden. Sack II ausstellte. Dass diese zunächst unspektakulär scheinenden Aktionen in der Zeit der Sowjet-Union mit Repression geahndet wurde, mag vielleicht Kritiker dieser entkunsteten Kunst-Form nicht von seiner Existenzberechtigung überzeugen, doch vermochte die Tatsache, dass im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte auch im Westen das "postdramatische Theater" (Hans-Thies Lehmann) den Spuren dieses abstrakten Minimalismus folgt, Romasko Co. gleichwohl zu überraschen. In der Kunst, die Kunst verlassen zu wollen kann man als gemeinsamen Zug neuere Theater-, Malerei-, Musikformen etc. erkennen. In ihrem Vortrag wies die Berliner Kunsttheoretikerin Sylvia Sasse auf den intellektuellen Hintergrund der Moskauer Minimalisten hin, der vor allem in einer intensiven Auseinandersetzung mit den Philosophien Martin Heideggers und Jacques Derridas bestand. Diese beiden grossen Geister standen immer wieder im Mittelpunkt der Debatten der Literatur-, Theater- und Medienwissenschaftler, Philologen und Philosophen, Psychoanalytiker und Historiker. Es war der Einladepraxis der Veranstalter zu verdanken, dass sich die Geister der Wissenschaftler immer wieder aufs Entschiedenste schieden - eine Vermittlung zwischen den schlichten Beschreibungen des Ereignis-Begriffes eines positivistischen Historikers wie Alexander Demandt oder eines Phänomenologen wie Martin Seel, der von einem "Aufstand der Gegenwart" sprach, einerseits und andererseits den verwickelten Umkreisungen des Literaturwissenschaftlers Christian L. Hart Nibbrig, der im Anschluss an Kafka von "abreißenden Anfängen" redete, schien schier unmöglich. Dennoch waren gerade Vermittlungsversuche die interessantesten Einsätze, zum Beispiel des Historikers Dietrich Kittsteiner, der sich in seinem Eröffnungsvortrag bemühte, Marx in die "Kehre" Heideggers einzutragen. Am zugespitztesten kam der konstitutive Widerstreit in der Debatte über Burkhardt Lindners engagierten Beitrag zum 11. September und Kapitalismus als Religion zur Sprache: Soll man von diesem Datum als einem "Ereignis" sprechen oder stützt eine solche Rede gerade die Ideologen der inneren und äußeren Sicherheit, die Scharfmacher und Kriegstreiber? Den stärksten Gegensatz zu jedem Denken des Ereignisses in reduktionistischer Weise jedoch bildeten die Beiträge des aufgrund von Krankheit abwesend Anwesenden Jean-Luc Nancy. Nancy bezieht sich in seinem Denken des Ereignisses als Entzug auf die theologische Figur der "creatio ex nihilo", der Schöpfung aus dem Nichts. Etwas ist, indem es nicht ist. Friedrich Kittler dagegen bemühte den alten Griechengott Zeus und das Bild von Blitz und Donner. Im Verlauf des dritten Tages zeigte sich die enorme Spannweite des Ereignis-Diskurses von der "Offenbarung" bis zur "Urszene". Die eschatologischen Figur des Messianismus, wie sie Giorgio Agamben in seinem Paulus-Buch entwickelt, spielt dabei eine Rolle und der "Messianismus ohne Messias", wie ihn Derrida in Marx´ Gespenster entwickelt oder der "Messianizität", wie es Werner Hamacher formuliert im Versuch, Marx mit Heidegger zu denken, um zu einem neuen Begriff des Politischen und zu einem Verständnis des Marxismus als Versprechen zu kommen. Hier wird das Ereignis zum "Wunder", theologisch gesprochen, oder zum "wahren Ausnahmezustand", wie es Benjamin in einer Kritik an Schmitt geschrieben hat. Die Welt, nur um ein wenig ver-rückt, aus der Perspektive der Erlösung betrachtet, wie Adorno schrieb, um gleichzeitig die Unmöglichkeit jeglicher politisch-utopischen Heilserwartungen nach Auschwitz festzuhalten. Die Frage, ob ein Denken "nach Auschwitz" nicht gerade durch die Aneignung von Heideggers Gedanken zum Beispiel über das "Ge-stell", von Gewinn sein könnte, stellte sich nach Judith Kaspers Beitrag Im Buch stabt das Trauma über das Buch W ou le souvenir d´enfance von Georges Perec, das in einer sehr gebrochenen Form das Trauma der Shoah buchstabiert. Das Ereignis wird hier im Sinne Heideggers zum "Enteignis". Dass das Trauma sich nicht in den Text einschreibe, sondern der Text vom Trauma hervorgebracht werde, wandte der Luxemburger Psychoanalytiker André Michels ein. In Lyotards Worten: "eine Offenbarung, die nichts offenbart, ein Elend." Dass sich dank der Vermittlung französischer Denker Freiburger und Frankfurter Denken annähern lässt, ist vielleicht das größte Ereignis einer geisteswissenschaftlichen Konferenz. Aber nachdem Jacques Derrida letzten Herbst den Adorno-Preis in der Frankfurter Paulskirche verliehen bekam, darf man so etwas auch öffentlich aussprechen.
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