Noch 1989 fühlten sich die Sozialdemokraten in Europa als Sieger. Der autokratische Staatssozialismus war an sein Ende geraten, das sozialdemokratische Gegenmodell - die Überwindung oder wenigstens sozialstaatliche Domestizierung des Kapitalismus mit demokratischen Mitteln - stand recht hoch im Kurs. In den neunziger Jahre wurden zeitweilig elf von fünfzehn EU-Staaten sozialdemokratisch regiert oder mitregiert. Momentan sind es noch vier (Schweden, Griechenland, Großbritannien, BRD/*). In Wetten darauf, dass es auch nach dem 22. September noch vier sein werden, wird nicht viel investiert.
Es ist noch gar nicht so lange her, da sprach Ralf Dahrendorf vom "sozialdemokratischen Jahrhundert". Die These, wonach es "die" Globalisierung war, die dem Traum von einem solchen Jah
chen Jahrhundert ein jähes Ende beschert habe, ist viel zu einfach. Natürlich änderten sich viele Rahmenbedingungen - vom Schwund der Beschäftigtenzahlen im industriellen Sektor über die Produktionsverlagerung in Billiglohnländer bis hin zum Boom im unübersichtlichen Dienstleistungssektor. Es sind jedoch weniger objektive Veränderungen in den verschiedenen Wirtschaftssektoren, die Westeuropas Sozialdemokratie auf breiter Front in die Defensive drängten, als viel mehr die sozialdemokratischen Parteien selbst. Die Zersplitterung der Linken spielte beim Niedergang der Sozialdemokratie eine gewisse Rolle, wie zuletzt in Frankreich. Aber Jospins Desaster verursachte nicht primär das trotzkistische Lager, sondern die regierende "pluralistische Linke" aus Sozialisten, Grünen, Kommunisten und Radikalsozialisten, die sich nicht auf einen Kandidaten aus ihren Reihen verständigen konnte. Die europäische Sozialdemokratie hat seit einem Jahrzehnt keine Konzepte, keine Theorie, keine politischen Perspektiven. Schlimmer noch: sie übernahm einfach das neoliberale Einheitsdenken. Unter dem doppelten Druck der Schutzansprüche und Interessen der traditionellen Klientel und dem Anpassungsdruck starker neoliberaler Interessen wurde gegenüber letzteren fast vollständig nachgegeben. Bis in die Terminologie hinein besteht das "sozialdemokratische" Programm nur noch aus vier ebenso pauschalen wie politisch ambivalenten Imperativen: "Modernisieren! Privatisieren!, Flexibilisieren! Deregulieren!" Zu "Begriffslieferanten für den Mainstream der Mitte" (Die Zeit) gewandelte Intellektuelle wie Anthony Giddens richteten nun die sozialdemokratischen Programme nach den vier Imperativen aus, und sozialdemokratische Politiker verkauften das Ganze als "Reform". Im Kern bestand sie europaweit darin, sozialstaatliche Sicherungen und Steuern zurückzunehmen, womit auf einen Schlag die staatliche Macht geschwächt und die Kapitalseite gestärkt wurde. Das entfremdet der Sozialdemokratie zuerst jene Schichten, die von der Globalisierung am stärksten betroffen sind und die obendrein als Modernisierungs- beziehungsweise Reformverlierer bestraft werden: Arbeiter, kleine Angestellte, Kleinhändler, Arbeitslose, Arme. Europa besteht zwar aus rund 83 Prozent Arbeitnehmern, aber im Durchschnitt nur jeder vierte wählt noch sozialdemokratisch. Dafür wandern immer mehr Arbeiter und Arbeitslose zu den Rechtspopulisten ab - in Österreich erreichten diese einen Stimmenanteil von 27, in Frankreich von 20, jüngst in Holland von 17 Prozent. Die konservativen und rechtspopulistischen Parteien in Europa erhalten wachsende Zustimmung eben nicht aus wohlhabenderen Kreisen, sondern überall von unten, von ganz unten. Die anstehenden Parlamentswahlen in Frankreich werden zeigen, inwieweit sich dieser Trend bestätigt, aber es ist anzunehmen, dass der Front National nicht wesentlich unter dem Ergebnis bleiben wird, das Le Pen gerade beim Votum über die Präsidentschaft verbuchte René Monzat, Journalist und Aktivist in der Bewegung gegen Le Pen, hat eine plausible Erklärung dafür, warum der rechte Populismus so erfolgreich ist. "Das sozialdemokratisch regierte Europa" hat "dem Diskurs über den Klassenkampf den Gnadenstoß versetzt", und der rechte Populismus die soziale Frage zum Stimmenfang benutzt. Unglaubwürdig sind sozialdemokratische Linksschwenks in den letzten Phasen des Wahlkampfs, wenn sich die Niederlage bereits abzeichnet - Jospin hat es nicht gerettet. Nicht einmal in der Außen- und Europapolitik kann die EU-Sozialdemokratie ein eigenständiges Profil ausbilden. Auf europäischer Ebene betätigen sich die sozialdemokratischen Regierungen und Kommissare inzwischen mehr als Handlanger denn als Kritiker der neoliberal gesteuerten Globalisierung. Das "Gegenfeuer" (Bourdieu) kommt auf keiner Ebene von den Sozialdemokraten und den mit ihnen verbündeten Parteien, sondern von außerparlamentarischen Bewegungen, Gewerkschaften und linksradikalen Gruppierungen. Und was die Demokratisierung der EU betrifft, so beschränkt sich der grün-rote Beitrag darauf, dass der deutsche Außenminister die Sachbearbeiterfloskel von der "Finalisierung" in die Debatte einführt. Herrscht in der Europapolitik Stillstand, so bestimmt hektischer Konformismus den Rest sozialdemokratischer Außenpolitik. Sie besteht im wesentlichen aus der Konkurrenz um das größte Tempo beim Nachlaufen hinter amerikanischen Vorgaben. Keine sozialdemokratische Regierung in Europa hat zuletzt bei den Konflikten auf dem Balkan, im Nahen Osten oder in Afghanistan Konturen einer eigenständigen Perspektive oder auch nur kritische Distanz zum Unilateralismus der USA erkennen lassen.(*) Frankreich hatte bis Mai eine Linksregierung. Bis zu den Parlamentswahlen am 9. und 16. Juni gibt es ein bürgerliches Übergangskabinett.