Außenseiter-Märchen

K-u-J-Bücher Phillip Pullman erzählt eine Geschichte, hinter der manchmal George Orwell hervorschaut

Manchmal benimmt Roger sich ein wenig rattenhaft. Dann rinnt ihm beim Anblick von Kordeln der Speichel im Mund zusammen, und er will sie unbedingt zu Tode nagen. Verschimmeltes Essen verschafft ihm ebenso Lustgefühle wie ihm Katzen Todesangst einjagen. Aber sonst ist Roger ein ganz normaler Junge.

Der britische Autor Philipp Pullman, bekannt geworden mit Phantasy-Romanen, hat mit Ich war eine Ratte ein Märchen geschrieben. Eines Tages steht ein etwas schmutziger Junge vor dem Haus des alten Ehepaares Joan und Bob und sagt eben nur, er sei vorher eine Ratte gewesen. Keiner mag das so recht glauben und Roger - so nennen die Alten ihren überraschenden Familienzuwachs - gibt sich auch redlich Mühe, sich wie ein gewöhnlicher Menschenjunge zu benehmen. Dabei steht ihm freilich nicht nur sein etwas rattenhaftes Benehmen im Wege, sondern vor allem seine Naivität. Sie führt ihn immer wieder in gefährliche Situationen. Bis ihm am Ende die Prinzessin des Landes aus dem Schlamassel hilft.

Unschwer ist erkennbar, dass Pullman in seinem Plot eine Reihe vertrauter literarischer Muster benutzt. Die Geschichte von Kaspar Hauser scheint hier ebenso durch wie das Motiv der kinderlosen Alten, denen ein spätes Kind hereingeschneit kommt wie einst Pinocchio dem alten Gepetto. Auch die Stationen der turbulenten Handlung hat man so schon öfter vorgefunden. Behörden, die nicht wissen, was sie mit dem Ungewöhnlichen anfangen sollen. Eine Polizei, dümmer, als sie selbst erlaubt. Eine Schule, in der mal wieder die Prügelstrafe regiert - ein Lieblingsmotiv britischer Kinderbücher. Ein Zirkusdirektor, der den Naivling ebenso instrumentell zu benutzen weiß wie eine Kinderbande, die einen schnellen Kletterer für ihre Einbrüche braucht.

Vieles absehbar also, aber dennoch amüsant in der Leichtigkeit und spielerischen Ungleichzeitigkeit. Zwanglos existieren in dieser Romanwelt eine in Designermöbeln wohnende Prinzessin neben kleinkriminellen Kellerkindern, die man sich gar nicht anders vorstellen kann als mit Schiebermützen und in den Knickerbockerhosen vergrabenen Händen.

Dass Pullmans Leichtigkeit einen doppelten Boden hat, wird aber spätestens dann klar, als der Autor seinen Helden der Massenpresse überantwortet. Die, eben noch mit den Liebeseskapaden der Prinzessin befasst, verwandelt den Rattenjungen in ein öffentliches Monster und stellt am Ende die brutale Frage: Soll das Monster vernichtet werden? Da wird als Botschaft des Romans kenntlich: wie eine Gesellschaft Menschen, die etwas anders sind, als Außenseiter nicht nur von sich abschließt, sondern auch vernichtet. "V" wie Vernichtung heißt das Programm, nach dem der Gefängnisdirektor zu handeln hat. Und es kann nur funktionieren, weil die Menschen nicht ihren Augen trauen, sondern der Ideologie der Zeitung Morgen-Echo. Sie wollen gar nicht mehr sehen, dass Roger ein ganz gewöhnlicher Junge ist. Hier wird Pullmans Welt düster wie bei George Orwell.

Ob freilich Jugendliche die Botschaft heraushören aus dem durchgängig ironischen Grundton, den Pullman anschlägt, ist fraglich. In diesem Punkt ist das Buch very british, vor allem in seinen Attacken auf die Monarchie, auf die publizistische Sensationslust und natürlich auch in den literarischen Brechungen bekannter Motive. Ältere Leser freilich mögen an der Ironie Gefallen finden, etwa an der schönen Beschreibung des Grundgesetzes der Boulevardpresse. Pullman hat sie in ein Mini-Kapitel gepackt, das er mit "Pressefreiheit" überschrieb: "Die Menschen im ganzen Land lasen die Berichte im ›Morgen-Echo‹ und bekamen das Gruseln".

Philip Pullman: Ich war eine Ratte. Aus dem Englischen von Wolfram Ströle und Cornelia Stoll. Mit Vignetten von Willi Glasauer. Carlsen-Verlag, Hamburg 2002, 153 S., 14,50 EUR

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden