Beim ersten Wahlgang am 11. April war die Überraschung so groß, dass der US-Nachrichtenkanal CNN nicht einmal ein Bild des Siegers zeigen konnte. Über dem Namen Pedro Castillo war nur eine schwarze Silhouette zu sehen, während daneben das Porträt der Zweitplatzierten Keiko Fujimori erstrahlte, der Tochter des von 1990 bis 2000 autoritär regierenden Staatschefs Alberto Fujimori. Hielt man sich den Zustand Perus vor Augen, konnte das Ergebnis kaum überraschen. Durch einen Wachstumseinbruch von fast 13 Prozent befindet sich das Land in der tiefsten Krise seit den 1980ern. Allein im vergangenen Jahr wuchs die Armutsrate von 20 auf etwa 30 Prozent. Hunger und Unterernährung grassieren, zwischen den Küstenstädten und dem abgelegenen Hinterland, z
, zwischen einer weißen Elite und den marginalisierten Indigenen gähnt ein Abgrund.Schätzungen zufolge stirbt gegenwärtig alle fünf Minuten ein Peruaner an Covid-19. Dabei korrespondieren die Folgen der Pandemie mit einer schwindenden Legitimation des politischen Systems, ausgelöst nicht zuletzt durch eine Korruptionsaffäre um den brasilianischen Baukonzern Odebrecht. Dies führte in den zurückliegenden Jahren zum Rücktritt oder zur Absetzung von drei Präsidenten. Ehemalige Amtsinhaber wie Alejandro Toledo suchten Zuflucht in den Vereinigten Staaten (er ist dort seit Juli 2019 in Haft) oder haben sich wie Alan Garcia erschossen, um Anklagen wegen Bestechung zu entgehen.In derart unruhigen Zeiten präsentierte sich Pedro Castillo als Kandidat der einfachen Leute, der ihre Sprache spricht und ihre Nöte kennt, besonders im ländlichen Raum. Geboren 1969 als drittes von neun Kindern einer kleinbäuerlichen Familie im abgelegenen Bergland der Nordregion Cajamarca, stammt er aus einer der ärmsten Gegenden Perus, der es noch nie helfen konnte, dass in nicht allzu weiter Entfernung eine der größten Goldminen Südamerikas ausgebeutet wird. Als Jugendlicher fand Castillo zu den „Rondas Campesinas“, bäuerlichen Milizen, die sich formierten, um Dorfgemeinschaften gegen die maoistische Guerilla „Leuchtender Pfad“ zu verteidigen.Nach einer Ausbildung zum Grundschullehrer kehrte Castillo mit 26 Jahren in das Heimatdorf Puña mit seinen gut 400 Einwohnern zurück. Dort arbeitet er bis heute als Lehrer, Schulleiter und Gewerkschafter. 2017 wurde er während eines Streiks für höhere Gehälter von Pädagogen national bekannt. Basisverbände honorierten mit der Wahl zum nationalen Streikkoordinator, dass Castillo gegen eine aus seiner Sicht zu konziliante Gewerkschaftsführung aufbegehrte. Am Ende hatte der zwei Monate dauernde Ausstand Erfolg, es gab tatsächlich ein höheres Entgelt.Im Vorfeld der jüngsten Präsidentschaftswahlen wurde Castillo von der sich als leninistisch verstehenden Partei „Perú Libre“ gebeten, als ihr Bewerber anzutreten. Parteiführer Vladimir Cerrón, ein auf Kuba ausgebildeter Neurochirurg, war durch eine Korruptionsaffäre belastet und hatte wenig Chancen, als Kandidat Gehör zu finden. Freilich ist offen, wie viel Rückhalt Castillo bei „Perú Libre“ wirklich gefunden hat. Nicht auszuschließen, dass im Fall eines Sieges bei der am 6. Juni stattfindenden Stichwahl eher Cerrón die Fäden in der Hand hält, zumal er das Wahlprogramm verfasst hat. Darin ist vom Bruch mit dem neoliberalen Modell die Rede, dem sich seit den 1990er Jahren Perus Regierungen jedweder Couleur verschrieben haben. „Perú Libre“ will sämtliche Verträge mit transnationalen Bergbau- und Erdgasunternehmen neu verhandeln und plant, dass der Staat rund 80 Prozent der Einnahmen aus den Rohstoffexporten erhält statt bisher üblicher 20 bis 30 Prozent. Mit dem dadurch verfügbaren Geld könnte ein marodes Gesundheitssystem mindestens das Doppelte an Ressourcen erhalten, um besonders der medizinischen Fürsorge im ländlichen Raum zu dienen. Der Staat soll laut Castillo zudem ein Konjunktur- und Industrialisierungsprogramm auflegen, das Armut überwinden lässt. In dieser Hinsicht folgt er dem klassischen Ansatz der südamerikanischen Linken.„Perú Libre“ will die Medien unter eine starke staatliche Kontrolle stellen, um zu verhindern, dass diese „die Moral und die guten Sitten der peruanischen Gesellschaft gefährden“. In puncto Geschlechterverhältnisse zeigt sich Castillo ultrakonservativ. Er verwahrt sich ausdrücklich dagegen, Abtreibungen und gleichgeschlechtliche Ehen zu legalisieren. Es sei für ihn ein zentrales Anliegen, die Institution der Familie zu verteidigen, bereits vorhandene Schulprogramme im Sinne von mehr Geschlechtergerechtigkeit lehnt er grundsätzlich ab.Dass ein Außenseiter mit dem Versprechen zum Wandel gewählt wird, ist in der jüngeren Geschichte Perus keinesfalls neu. Bisher einmalig ist die Chance, sich der neoliberalen Verfassung von 1993 als einer Hypothek aus der Ära Alberto Fujimori zu entledigen. Angesichts einer unverkennbaren Gesellschaftskrise wächst wie in Chile die Unterstützung für eine politische „Neugründung“ durch eine verfassunggebende Versammlung. Eine solche Transformation will Castillo in die Hände von Basisorganisationen aus dem ganzen Land legen. Die soeben geschmiedete Allianz mit der Linkskandidatin Veronika Mendoza, die eher eine urbane Mittelklasse anspricht, ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Ob er sich damit durchsetzt oder durch die rechtspopulistische Keiko Fujimori die autoritäre Versuchung ins Präsidentenamt zurückkehrt, wird sich am 6. Juni zeigen.Placeholder authorbio-1