Es ist eine gewaltige Summe: 5,6 Milliarden Euro soll die EU-Grenzschutzagentur Frontex bis 2027 aus dem EU-Haushalt erhalten. Bislang musste sich Frontex Grenzschützer:innen von den Mitgliedstaaten leihen, künftig sollen 10.000 eigene Beamte eine „Stehende Reserve“ bilden. Hinzu kommt eigenes Equipment, wie Flugzeuge, Drohnen und Schiffe. Keine EU-Agentur ist in den vergangenen Jahren so schnell gewachsen wie Frontex. Keine hat so viele Kompetenzen zugesprochen bekommen – und keine hat in der jüngeren Vergangenheit so viel Kritik auf sich gezogen. Die Liste der Vorwürfe ist lang: Verwicklung in illegale Pushbacks Geflüchteter von Griechenland zurück in die Türkei; Mitwissen bei Menschenrechtsverletzungen in Kroatien und Ungarn; Verheiml
imlichen von Treffen mit Rüstungs-Lobbyist:innen. Und immer wieder Lügen gegenüber EU-Parlamentarier:innen und der Öffentlichkeit.2005, als Frontex die Arbeit aufnahm, sollte die Agentur eine europäische Koordinierungsbehörde sein, die nationale Polizist:innen aus EU-Binnenstaaten wie Deutschland an die Außengrenze in Griechenland oder Spanien schickt, damit diese ihren Kolleg:innen dort beim Grenzschutz halfen. So weit, so gut.Die Europäische Union erhebt für sich den Anspruch, für Menschenrechte einzustehen. Da ist es nicht verwunderlich, dass viele Menschen auf der Flucht versuchen, genau davon Gebrauch zu machen und alles daran setzen in die EU zu gelangen, um dort Anträge auf Asyl zu stellen.Aber anstatt den Zugang zu Asylverfahren zu erleichtern oder solidarische Verteilungsmechanismen für Schutzsuchende zu schaffen, war die Antwort auf die steigenden Geflüchtetenzahlen stets: mehr Geld für Frontex, um die Außengrenzen schärfer zu kontrollieren und so die Zahl der Schutzsuchenden zu reduzieren. Die Folge: Die Agentur ist mitsamt der EU in eine regelrechte Menschenrechtskrise gestürzt.Den vorläufigen Höhepunkt erreichte diese, als ein internationales Rechercheteam im September anhand von Videos, Fotos und Dokumenten Beweise dafür präsentierte, dass Frontex in menschenrechtswidrige Pushbacks in der Ägäis verwickelt war.Und trotzdem gelang es nicht, die Verantwortlichen bei Frontex zur Verantwortung zu ziehen. Zum einen, weil in den wenigsten Fällen die für die Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen ausgemacht werden können. Frontex wälzt die Verantwortung stets auf die Grenzstaaten ab, die bei den Einsätzen das Oberkommando haben.Zum anderen, weil es sehr schwer ist, gegen die Agentur im Fall von Menschenrechtsverletzungen zu klagen. Denn die Europäische Union hat nicht die Europäische Menschenrechtskonvention unterschrieben und kann somit nicht vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verklagt werden. Das Gericht, das bleibt, ist der Europäische Gerichtshof – aber dort eine Klage einzureichen, ist eine ähnlich hohe Hürde, als müsste man in Deutschland vors Bundesverfassungsgericht ziehen. Die Aussicht auf Erfolg ist also gering.Und auch sonst wird Frontex kaum kontrolliert. Das EU-Parlament kann lediglich über das Budget der Agentur bestimmen. Der Verwaltungsrat, der Frontex kontrolliert, besteht aus zwei Vertreter:innen der Kommission und 27 Vertreter:innen der Mitgliedstaaten. Und diese scheinen nur ein geringes Interesse an der Aufklärung der Vorwürfe gegen Frontex zu haben.Nichtsdestotrotz: Inzwischen ist Frontex nicht nur die größte und am schnellsten wachsende Agentur der EU – sie ist auch die Agentur, gegen die im Moment die meisten Ermittlungsverfahren laufen, von der Ombudsfrau der Europäischen Union bis zur Antikorruptionsbehörde OLAF. Das EU-Parlament hat einen Untersuchungsausschuss eingerichtet. Nach unserer Veröffentlichung der „Frontex Files“, die sämtliche Treffen von Frontex und Lobbyisten der Rüstungsindustrie in den Jahren 2017 bis 2019 offenlegen, haben die für Haushaltskontrolle zuständigen EU-Parlamentarier:innen angekündigt, sich die Dokumente vorzunehmen. Der Chef der Agentur, Fabrice Leggeri, ist inzwischen intern hochumstritten, die Rücktrittsforderungen mehren sich. Auch die EU-Kommission ist alarmiert.Doch ganz gleich, ob Leggeri abtreten muss oder ob die Arbeit der Agentur künftig engmaschiger überwacht wird: Ändern wird sich die Situation an den EU-Außengrenzen sobald nicht.Denn Frontex selbst ist nicht das Problem. Aber Frontex verkörpert wie keine andere Behörde die Widersprüche der europäischen Migrations- und Asylpolitik. Eine Politik, die sich der Genfer Flüchtlingskonvention verpflichtet – aber dennoch Menschen daran hindern will, von ihr Gebrauch zu machen, indem sie Geflüchtete an der Grenze abweist. Wollen Frontex und die nationalen Grenzschützer den politischen Vorgaben der EU-Mitgliedstaaten gerecht werden, gibt es daher nur eine Möglichkeit. Hie und da Menschenrechte zu verletzen.Placeholder authorbio-1