Außerhalb der staubigen Villa

Kino „Die Erbinnen“ erzählt vom Gefangensein in Konventionen und einem ganz leisen Aufbegehren
Ausgabe 48/2018

Die Dunkelheit ist das, was zuallererst auffällt. Wenig ist zu sehen, wenn wir im Haus von Chela (Ana Brun) und Chiqita (Margarita Irún) sind, dem in die Jahre gekommenen Paar, von dem der paraguayische Regisseur Marcelo Martinessi in Die Erbinnen erzählt. Überhaupt machen es die Kadrierungen von Luis Armando Arteaga dem Zuschauer nicht leicht. Der Kameramann filmt durch Türrahmen und Gefängnisgitter, ist nicht daran interessiert, mit seinen Einstellungen einen Überblick zu verschaffen. In der Dunkelheit sucht er die Nähe, zeigt die Personen in seltsamen Profilansichten und von hinten. Nein, die Bilder wollen dem Zuschauer die Welt von Die Erbinnen nicht klassisch öffnen. Vielmehr sind sie der formale Ausdruck für die Verschlossenheit, von der Marcelo Martinessi in seinem Langfilmdebüt erzählt.

Denn Die Erbinnen ist die Geschichte einer Gefangenschaft, das Gefängnis allerdings kein buchstäbliches, sondern ein zwischenmenschliches. Es geht um die festgefahrene Beziehung von Chiqita und Chela. Erstere ist die Macherin, sie gibt den Ton an und fährt das Auto, wenn die Frauen mal das Haus verlassen. Chela ist der passive Gegenpol, sie bleibt am liebsten in den eigenen vier Wänden der geerbten dunklen Villa in Asunción, in der sie leben. Sie braucht Ordnung, im Alltag und auf dem Tablett, auf dem ihr das Essen gereicht wird. Und sie kann launisch sein. „Du musst dem Mädel Deo besorgen“, raunt sie Chiqita einmal wegen des Körpergeruchs der Hausangestellten an, auf die sie aber nicht verzichten möchte.

Für ihre erste Spielfilmrolle überhaupt wurde die Endsechzigerin Ana Brun auf der diesjährigen Berlinale als beste Darstellerin ausgezeichnet, insgesamt vier Preise gingen dort an Martinessis Film. In der Tat spielt Brun die zarte Verwandlung ihrer Chela mit fein nuancierter Zurückhaltung. Den Verkauf des Mobiliars, mit dem die Frauen sich zunächst über Wasser halten, pflegt sie noch aus einer dunklen Ecke zu beobachten. Doch als Chiqita wegen der Überschuldung ins Gefängnis muss, ist Chela gezwungen, sich herauszuwagen. Eine betagte Nachbarin fragt, ob Chela sie mit dem Auto zum Kartenspielen fahren kann. So rutscht die Frau, die eigentlich ungern fährt und nicht mal einen Führerschein hat, langsam in die Rolle der gerne „gebuchten“ Chauffeurin wohlhabender Damen, deren Fahrtstrecken sich langsam verlängern.

Eine erste Zigarette

Von einer Befreiungsgeschichte zu sprechen, wäre allerdings übertrieben. Was Chela mit vorsichtigen Schritten erlebt, ist ein subtiles, von den äußeren Umständen gesteuertes Herantasten an eine Freiheit außerhalb der verstaubten Villa und des gewohnten Alltags. In Angy (Ana Ivanova) findet sie eine Kundin, die zu einer Art Freundin wird und ihr Interesse weckt. Chela scheint fasziniert von der Sinnlichkeit der wesentlich jüngeren Frau, die ihr in einer der wunderbarsten Szenen des Films im Auto das Rauchen beibringt. „Ich zeige dir, wie ich es gelernt habe. Komm her, mach die Augen zu“, erklärt Angy da und hält Chela die Zigarette an die Lippen. Die Zigarettenglut wird später auch einmal kurz die Dunkelheit zerschneiden.

Die Erbinnen ist ein Film der Frauen, Männer tauchen, wenn überhaupt, nur als Statisten am Rande auf. Martinessi konzentriert sich voll und ganz auf seine Figuren und meidet einen direkten politischen und historischen Bezug. Dass Chela und Chiqita zu einer alten Oberschicht gehören, deren goldene Jahre die von 1954 bis 1989 unter Diktator Alfredo Stroessner waren, wird kaum angerissen. Im Subtext greift Martinessi damit subtil Paraguays gesellschaftliche Entwicklung auf: Seine Frauen sind Erbinnen einer vergangenen Epoche, die Stück für Stück verschwindet, ihre langsam sich auflösende Villa steht hier für die bröckelnde Komfortzone eines gutbürgerlichen Lebens.

Martinessi will seinen Film nicht direkt verorten, kein Licht in das Dunkel, in die „Jahre der Finsternis“ bringen, wie er die 60er und 70er Jahre seines Landes im Interview nennt. Vielmehr will er eine universelle Geschichte erzählen: über das Gefangensein, das durch erzählerische Sperrigkeit und formale Strenge buchstäblich spürbar wird, und über ein sehr leises Aufbegehren. Sicherlich ist Die Erbinnen kühn inszeniert und zeigt eine interessante, kaum je gesehene Welt. Aber in gewisser Weise ist Martinessis Film auch selbst gefangen in seiner hermetischen Form, die den Zuschauer unweigerlich auf Distanz und damit auch in der Dunkelheit hält.

Die Erbinnen Marcelo Martinessi Paraguay u.a. 2018, 98 Minuten

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