Während die Tschechen nicht wissen, wie ihnen geschieht, wissen die Österreicher zumindest, was sie nicht wollen: Temelin. Wird es nicht abgeschaltet, droht trotz jüngster Verhandlungen nach wie vor ein österreichisches Veto gegen die Aufnahme Tschechiens in die EU. Um den Konflikt zu beenden, waren am 29. November Tschechiens Premier Zeman, Österreichs Kanzler Schüssel und EU-Erweiterungskommissar Verheugen in Brüssel zusammen getroffen. Durch eine Vereinbarung wollte man den Streit beilegen. Das Papier, das der Kanzler nach Wien mitbrachte, ist allerdings mager. Die Nullvariante wurde gar nicht erst verhandelt, ein Ausstiegsszenario liegt nicht vor, die Rechtsverbindlichkeit des Abkommens ist fragwürdig.
Das ist zu wenig, Herr Bundeskanzler", schlag
skanzler", schlagzeilt die Krone gleich nach den Verhandlungen. Tags darauf heißt es: "Koalition taumelt in schwere Krise". Da ist was dran. Außer der Schüssel-ÖVP sehen das auch alle andern so. "Das ist ein Ergebnis, das nicht ausreicht", sagt die Vizekanzlerin Susanne Riess-Passer (FPÖ). Ein "fadenscheiniger Kompromiss", meint der SPÖ-Vorsitzende Alfred Gusenbauer. Und der Kanzler tut das, was er immer tut, er dribbelt und trixt. Zwischen bedingungslosem europäischem Credo und unbedingter nationaler Solidarität jongliert die ÖVP. Das Flanieren wird aber auf Dauer kaum durchzuhalten sein. Und wenn es nicht mehr geht, wird Wolfgang Schüssel ziemlich blöd dreinschauen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es die christlich-soziale ÖVP an dieser Frage zerreißt, schon jetzt gibt es dort nicht wenige, die zurück in die Koalition mit der SPÖ möchten. Doch die wird keinen fliegenden Wechsel akzeptieren und drängt auf Neuwahlen, wohl in der nicht ganz unberechtigten Hoffnung, dass in der Konfrontation SPÖ-FPÖ die ÖVP noch einmal deutlich absacken wird und die Episode Schüssel damit beendet wäre.Mit den Brüsseler Verhandlungen wurde also nichts gelöst. Wenn Schüssel meint, der "Durchbruch" sei gelungen, dann wohl weniger nach vorn als nach unten. Die FPÖ weist zu Recht darauf hin, dass mit der vorliegenden Vereinbarung gar nichts abgeschlossen oder gar vorweggenommen sei, dass erst im Frühjahr 2003 bei der nächsten Erweiterungsrunde der EU die Stunde der Wahrheit kommen werde. Für ein österreichisches Ja zu neuen EU-Mitgliedern ist ein einstimmiger Beschluss im Ministerrat nötig, er ist also nur möglich mit den Stimmen der FPÖ-Kabinettsmitglieder. Ob der Beitritt Tschechiens durch die Brüsseler Vereinbarung realistischer geworden ist, darf bezweifelt werden.Freiheitliche GlücksfälleDas Beziehungen zwischen Österreich und Tschechien sind praktisch auf dem Tiefpunkt angelangt. Während Prag unbedingt an der Atomanlage in Südböhmen festhalten will, fordert Wien eine Nulloption, ansonsten droht der EU-Beitritt Tschechiens zu platzen. Implizit machen das alle im Parlament vertretenen Parteien, aber auch die Umweltorganisationen, indem sie den Nichtabschluss des Energiekapitels im Rahmen der Beitrittsverhandlungen empfehlen, sollten bestimmte Auflagen nicht erfüllt werden. Ganz offen freilich vertritt das Veto nur die FPÖ.In der Bevölkerung entsteht so der Eindruck: Alle sind dagegen, die einen jedoch reden bloß, während die anderen handeln. Was alle wollen, das traut sich nur die FPÖ. Von einer solchen Konstellation profitieren die Freiheitlichen. Schon lässt Haider wissen, dass er an Neuwahlen interessiert sein könnte. Es ist schlichtweg grotesk: Die anti-ökologische Industriepartei firmiert als konsequenteste Vertreterin ökologischer Interessen.Temelin ist daher ein Glücksfall für die Haider-Partei, kann sie doch unter dem Titel der Atomkraft breite Allianzen schmieden, wo es eigentlich um etwas anderes geht: um Revanche. Revanche für die Vertreibung der Sudetendeutschen, "die Unrechtsdekrete von Benes?" (FPÖ-Klub-Obmann Westenthaler), Revanche für die EU-Sanktionen, denen sich Tschechien als einziger Staat aus dem Kreis der Beitrittsaspiranten angeschlossen hatte. Außerdem ist man grundsätzlich gegen die Osterweiterung der Union, auch wenn es im Regierungspakt anders vereinbart wurden.Was im europäischen Ausland so ziemlich alle begreifen, das will im Inland allerdings so ziemlich niemandem auffallen. Zumindest wird es von offizieller Seite kaum problematisiert. Dazu kennen die Parteizentralen und Umweltinitiativen ihre Pappenheimer an den Stammtischen nur allzu gut. Indes: Wer keine entscheidende Differenz zum nationalen Revanchismus aufzumachen versteht, ist bestenfalls ein Dummkopf, auch wenn sein Anliegen ("Keine Atomkraftwerke") ein unterstützenswertes ist. Niemand sollte davon befreit werden, im historischen Kontext zu denken.Volksbegehren und NeuwahlenUnter dem Titel "Fromme Wünsche sind zuwenig - Nein zu Temelin!" hat nun die FPÖ ein Volksbegehren eingeleitet, das den EU-Beitritt Tschechiens mit der Abschaltung Temelins koppelt. Vom 14. bis 21. Januar findet die Eintragungswoche statt, das heißt, da können die Bürger auf den Gemeinde- oder Bezirksämtern ihre Unterstützung per Unterschrift kundtun. Es werden nicht wenige sein. Laut Umfragen will mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten das Volksbegehren unterzeichnen. Fragt sich nur, ob es nach solch einem emotionalen Auftrieb noch möglich ist, einer unzweideutigen Willensäußerung des Wahlvolkes nicht die entsprechenden Handlungen folgen zu lassen.Von einer "Sympathiewelle über die Parteigrenzen hinweg" berichtet der niederösterreichische Landesobmann der Freiheitlichen, Ernest Windholz. Der Umstand, dass auch diverse ÖVP-Granden mit einem Veto liebäugeln, stärkt das Anliegen. Dafür gibt es noch einen anderen Grund, und zwar das relativ kaltschnäuzige Verhalten der zuständigen EU-Verkehrspolitiker die heimische Transitfrage betreffend. Den Junktimierungen sind jedenfalls keine Grenzen gesetzt. Auch wenn für letztere kein einziger Beitrittskandidat verantwortlich gemacht werden kann. Aber weil man sich mit Brüssel nicht so recht anlegen will, tritt man stellvertretend auf die Tschechen und vielleicht bald auf die Slowenen. Schließlich betreiben die ein AKW in Krsko. Außerdem gibt es da die den Benes?-Dekreten vergleichbaren Avnoj-Beschlüsse, die zu einer Aussiedlung der deutschsprachigen Bevölkerung in Jugoslawien nach 1945 führten.Einmal mehr ist auch das größte Boulevardblatt des Landes, die Kronen-Zeitung (drei Millionen Leser bei einer Bevölkerung von acht Millionen), ein Herz und eine Seele mit den Anliegen der Freiheitlichen. Mit all seinen Geschützen hat das Blatt sich positioniert. Günther Nenning, inzwischen zum Hauskolumnisten der Krone avanciert, schreibt am 25. November: "Der FPÖ ist das positive Bummerl aufzuschreiben, dass sie den Widerstand gegen Temelin mit besonderer Wucht betreibt. Aber es wäre nicht gut, wenn eine so hervorragend nationale Sache - die alle Österreicher betrifft - nur auf die Fahne einer Partei aufgespießt wird." Und gleichentags sein Kollege Peter Gnam: "Österreich kann darüber bestimmen, mit wem wir in einer Gemeinschaft sein wollen. Darum geht es letztlich beim Temelin-Referendum im Januar: Wollen wir, dass dieses Land in die EU-Familie aufgenommen wird oder wollen wir das nicht?" - Das nennt man einen Wink mit dem Zaunpfahl.Rang zehn für den "Schrottreaktor "Möglicherweise wird sich der bilaterale Konflikt gar zu einem gesamteuropäischen Problem aufschaukeln. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass man in Wien vor der grandiosen Entscheidung steht: Innenpolitischer Crash oder außenpolitisches Desaster. Das Veto ist nämlich eine nationale Karte, die europäisch nicht sticht. Doch das macht nichts. Besonders die FPÖ schielt auf eine europäische Niederlage, die sie hervorragend als nationalen Zündfunken zu gebrauchen versteht. Was sie inszeniert, ist einmal mehr ein austriakisches Trotzpinkerl, das sich von aller Welt verraten und bedroht fühlt. Man wird wieder den Beleidigten spielen. Das ist zwar eine schräge Logik, aber damit gewinnt man Wahlen.In Tschechien hingegen will man die Aufregung nicht verstehen, man spricht gar von einer "Nestroy-Posse" und setzt auf Brüssel gegen Wien. Temelin sei mit amerikanischer Technik nachgerüstet, die Sicherheit entspräche dem EU-Standard, so Prag. Selbst das Wiener Ökologie-Institut stellte der südböhmischen Anlage kürzlich ein durchaus gutes Zeugnis aus. Von 41 geprüften Atomkraftwerken in Europa rangierte es auf Rang zehn. Ähnliches sagt die Atomenergiebehörde IAEA. Das alles spricht zwar nicht für ein AKW in Temelin, es spricht aber dagegen, Temelin zu einem Sonderfall zu machen, gar von einem "Schrottreaktor" zu reden, wie es im freiheitlich-ökologischen Jargon fortwährend geschieht. Was sich abzeichnet, ist jedenfalls ein Worst-case-Szenario: FPÖ und Atomkraftbetreiber werden gestärkt, während die Kernkraftgegner (wie es in Tschechien bereits jetzt der Fall ist) geschwächt aus den Konflikten hervorgehen. Gestärkt wird auch der Nationalismus, nicht nur in Wien - ebenso in Prag.
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