Auszeit von der Normalität

Naturkatastrophe Chile: In der Katastrophe zeigt sich auch die heroische und solidarische Seite der Menschen

Im Jahre 1647 erschütterte schon einmal ein Erdbeben Chile und verwüstete zwei Drittel der Hauptstadt Santiago. 160 Jahre später veröffentlichte der preußische Dichter Heinrich von Kleist seine Novelle Das Erdbeben in Chili. Die Geschichte erzählt von einem unstandesgemäßen Liebespaar, das entdeckt und getrennt wird, dennoch wieder zusammenkommt und aufgrund einer Schwangerschaft nicht nur getrennt, sondern in Haft genommen und zum Tode verurteilt wird. Das Erdbeben befreit ihn aus dem Gefängnis und sie aus dem Zug, der zur Hinrichtung führt. Doch nicht nur diese beiden Opfer der katholischen Sozialmoral profitieren von dem Erdbeben: „Und in der Tat schien, mitten in diesen gräßlichen Augenblicken, in welchen alle irdischen Güter der Menschen zu Grunde gingen, und die ganze Natur verschüttet zu werden drohte, der menschliche Geist selbst, wie eine schöne Blume, aufzugehn.“

In der Katastrophe zeigt sich die heroische und solidarische Seite der Menschen, die über sich und ihre alltäglichen Kleinlichkeiten hinauswachsen. Kleist formuliert dabei den sehr bedenkenswerten Satz: „Ja, da nicht einer war, für den nicht an diesem Tage etwas Rührendes geschehen wäre, oder der nicht selbst etwas Großmütiges getan hätte, so war der Schmerz in jeder Menschenbrust mit so viel süßer Lust vermischt, daß sich, wie sie meinte, gar nicht angeben ließ, ob die Summe des allgemeinen Wohlseins nicht von der einen Seite um ebenso viel gewachsen war, als sie von der anderen abgenommen hatte.“

Die Bilanz der Naturkatastrophe wird gezogen und zeigt, dass Kleist die Intensität des Erlebens über die Schrecken und Schmerzen stellt, die den Menschen widerfahren respektive zugefügt werden. Eine Auszeit bietet das Beben von der Normalität und einer schrecklichen sozialen Ordnung, die bei ihrem Wiedereinzug aufs Grausamste das Liebespaar und einen Knaben, der für ihren Sohn gehalten wird, umbringt.

Ein legitimer Akt

Folgen nicht auch heutige Katastrophenszenarien einem ähnlichen Modell: Im Moment der höchsten Not zeigen ansonsten unauffällige Personen, dass sie durchaus ihr Schicksal in die Hand zu nehmen wissen und zu solidarischen Aktionen fähig sind, die nur der Supermarktbesitzer und die Medien als Plündern bezeichnet wissen wollen. Selbst die chilenische Regierung hat akzeptiert, dass in der Notlage Hungernde, die sich zusammenschließen, um Nahrungsmittel aus Lagern zu holen, einen legitimen Akt begehen und einigen Supermärkten Erstattung der Verluste zugesichert.

Kehrt schließlich die Ordnung wieder ein, sind Flüchtlingslager eingerichtet und „Sicherheitskräfte“ vor Ort, beginnen die Vergewaltigungen, tauchen Kinderschänder und Mädchenhändler en masse auf – ob nun in Haiti oder nachdem Tsunami 2004 in Thailand oder Indonesien –, womit von den alltäglichen Betrügereien, Gewalttätigkeiten und Verletzungen noch nichts gesagt ist.

Kleist hat offenbar das Katastrophale der Normalität gesehen, weswegen die Naturkatastrophe von ihm als Erlösung beschrieben werden kann. Das Erdbeben, und da muss man erst einmal schlucken, heißt auch Erlösung vom Profanen und Banalen, das Kleist als radikalen Ästheten, den das Überleben wenig interessiert und dem es mehr um die Intensität des Lebens zu tun ist, schier verzweifeln lässt. Und ihn schließlich zum Freitod am Kleinen Wannsee führt. Auch wenn das nicht besonders hoffnungsfroh stimmt.


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