Arbeiter in Campi Bisenzio halten Fabrik besetzt: Autoachsen zu Photovoltaik
Italien Entweder Job oder Klima? Als der Autozulieferer GKN nahe Florenz zusperren will, besetzt die Belegschaft die Fabrik: Sie planen den ökologischen Umbau, denn sie wollen beides – arbeiten und das Klima schützen
„Insorgiamo“ – „Wir erheben uns“: Demonstration gegen die Schließung in Florenz
Foto: Giorgio Pica/Imago Images
Es ist der 8. Mai 2023. Hunderte Menschen versammeln sich im Freizeitzentrum „La Rinascita“ in Campi Bisenzio. Viel Beton, Industriehallen und Reihenhaussiedlungen prägen das Straßenbild der Kleinstadt, nur zehn Kilometer außerhalb von Florenz. Heute wird der Abschluss der erfolgreichen Crowdfunding-Kampagne der Arbeiter*innen des ehemaligen Autozulieferers GKN gefeiert. Seitdem die Arbeiter*innen vor knapp zwei Jahren entlassen wurden, halten sie ihre Fabrik besetzt. Sie kämpfen für eine Wiederaufnahme der Produktion – unter ökologischen Vorzeichen. Das Crowdfunding soll einen Grundstein für eine genossenschaftlich organisierte Produktion in der Fabrik legen. Insgesamt 170.000 Euro wurden in nur wenigen Wochen gespendet.
Am 9. Juli 2021
Juli 2021 hatten die gut 500 Arbeiter*innen per E-Mail von ihrer Entlassung erfahren. Der Hintergrund: GKN wurde 2017 vom britischen Private-Equity-Fonds Melrose Industries übernommen. Melrose verdient jedes Jahr mehrere Milliarden damit, am Aktienmarkt niedrig bewertete Unternehmen aufzukaufen, Massenentlassungen vorzunehmen, Unternehmenswerte wie Maschinen oder Grundstücke zu verkaufen, Konzerne aufzuspalten und die einzelnen Teile wieder an der Börse zu verkaufen. „Buy, improve, sell“, beschreibt der Fonds die eigene Strategie im Unternehmensmotto.Doch die Arbeiter*innen von GNK machten da nicht mit. Nachdem sie per E-Mail entlassen werden sollten, verschafften sie sich – an den Ketten des Werksschutzes vorbei – Zugang zum Fabriksgelände. Und begannen eine „permanente Betriebsversammlung“. Seit nunmehr zwei Jahren kämpfen sie jetzt als Fabrikkollektiv Collettivo di Fabbrica GKN nicht nur für den Erhalt der eigenen Arbeitsplätze und gegen Massenentlassungen, sondern für eine soziale und ökologische Zukunft für alle. Von den italienischen Partisanen haben sie sich ihr Motto entliehen: „Insorgiamo“, das heißt „Erheben wir uns“. Großdemonstrationen, gemeinsam mit Fridays for Future organisiert, mobilisierten Zehntausende Teilnehmer*innen. Das Collettivo ist zum italienischen Symbol des sozialökologischen System Change geworden.Heute wird also gefeiert. Nach dem erfolgreichen Crowdfunding gibt es Essen an langen Tischen, Reden und gemeinsame Lieder. Gekommen sind Ex-GKN-Arbeiter*innen und ihre Familien, Leute aus anderen Fabriken der Umgebung und sogar Pfarrer Don Vincenzo. Trotz des Etappensiegs ist die Stimmung durchmischt. Die Kernforderung der Arbeiter*innen – ein staatlicher Eingriff, um die Fabrik als erste öffentliche, nachhaltige und gemeinwohlorientierte Fabrik Italiens zu erhalten – bleibt weiterhin unerfüllt.Gemeinwohl-Genossenschaft„Es tut gut, zu sehen, dass so viele Leute nach zwei Jahren immer noch hinter uns stehen und so viel Geld gespendet haben“, sagt Roberto, der über zwei Jahrzehnte bei GKN beschäftigt war. „Aber uns geht dennoch langsam die Puste aus. Ich hätte mir gewünscht, dass noch mehr von unseren Kolleg*innen heute hier erschienen wären.“ Von den ursprünglich 422 Festangestellten und 80 Leiharbeiter*innen sind noch rund 200 dabei. Im November 2022 wurde die Auszahlung des Kurzarbeitergeldes ausgesetzt. Viele der Arbeiter*innen sind seither gezwungen, in anderen Fabriken der Region einen Job anzunehmen. „Wir können es uns nicht mehr leisten, auf den Staat und die Politik zu warten. Wir brauchen einen eigenen Plan B, und das ist eine eigene Genossenschaft“, sagt Dario Salvetti, einer der ehemaligen Betriebsräte.Auch in der Fabrik ergibt sich ein widersprüchliches Bild. Selbstorganisierung und Kampfgeist stehen im Kontrast zu stillstehenden Maschinen und lähmender Ungewissheit. Die Mensa in der Ex-GKN-Fabrik läuft werktags wieder, ein Nudelteller und das Glas Wein dazu sind für einen Euro zu haben. Für die wöchentlichen Versammlungen gibt es einen Raum zur Kinderbetreuung. Auch für juristische und psychologische Unterstützung und die Zusammenführung des Kampfes mit anderen politischen Bewegungen gibt es eigene Räume im Verwaltungsbereich der Fabrik. In den Produktionshallen herrscht jedoch Stillstand. „Es tut weh, zu sehen, dass die modernen Roboter, die hier stehen, an Funktionstüchtigkeit verlieren, obwohl sie so viele sinnvolle Dinge produzieren könnten“, sagt Mario, während er uns die Produktionshallen zeigt.Betriebsrat Dario Salvetti unterteilt den Kampf in drei Phasen. In Phase eins, ab Juli 2021, ging die Belegschaft mit Unterstützung der FIOM-CGIL, der italienischen Metallergewerkschaft, rechtlich gegen die Entlassungen vor. Sie bekam recht und Kurzarbeitergeld. Von Beginn an suchte die Belegschaft den Schulterschluss mit der Klimagerechtigkeitsbewegung und mit Wissenschaftler*innen, um gemeinsam einen Umrüstungsplan für die Fabrik zu erarbeiten. Im ersten Sommer kamen jeden Tag Hunderte Menschen ins Werk. Es zahlte sich aus, dass das Fabrikkollektiv schon seit 2018 bestand und mit ihm eine basisdemokratische Struktur, die parallel zur gewerkschaftlichen existierte. Zusätzlich zu regulären Betriebsräten etablierte das Kollektiv ein rotierendes Delegierten-System, regelmäßige Versammlungen und Vernetzung. Es lag auch daran, dass die Arbeiter*innen so geschlossen auf den Versuch der Werksschließung reagieren konnten.Die zweite Phase in Darios Zeitrechnung begann im Dezember 2021, als der katholische Unternehmer Francesco Borgomeo die Fabrik von Melrose aufkaufte und verkündete, die Produktion in Campi Bisenzio wieder aufzunehmen. Es folgten langwierige Gespräche mit dem Entwicklungsministerium, der toskanischen Regionalpolitik, dem neuen Inhaber, der FIOM und den Betriebsräten. Borgomeo schwang große Reden von Transformation und versprach den Arbeiter*innen eine rosige Zukunft. Eigens für seine großspurige Antrittsrede ließ er eine Bühne in der Fabrikhalle des Werkes errichten. Für mehr als leere Worthülsen reichte es nicht.Die Arbeiter*innen aber machten einfach weiter und entwickelten ihren eigenen Konversionsplan für die Fabrik. Aus der Zusammenarbeit mit solidarischen Wissenschaftler*innen entwarfen sie eine Zukunftsperspektive, die nicht länger mit Verbrennermotoren und fossiler Mobilität zu tun hatte: Stattdessen sollten zukünftig Photovoltaikanlagen mit Kohlenstoff-Nanoröhrchen hergestellt werden. So würden rund 120 Arbeitsplätze entstehen, durch die Produktion von Lastenrädern weitere zehn. Die Arbeiter*innen gingen damit in ganz Italien auf „Insorgiamo- Tour“, um auf ihren Kampf aufmerksam zu machen. Sie wussten, dass sie nur gewinnen würden, wenn sie die politischen Kräfteverhältnisse zu ihren Gunsten verändern.Vom Staat kam nichtsAllerdings zeigten weder der italienische Staat noch der neue Besitzer Francesco Borgomeo Interesse am Vorhaben der Arbeiter*innen. Pläne zur Reindustrialisierung legten sie aber auch keine vor. Schließlich gab Borgomeo im März dieses Jahres den Verkauf des Werkes bekannt. Wer es übernehmen wird, ist derzeit unklar. Die Bühne steht, ebenso wie die Roboter und andere Maschinen, unbenutzt in den stillen Werkshallen herum, obwohl es an Interessent*innen nicht mangelt und immer wieder neue Ideen an die Belegschaft herangetragen werden.Placeholder image-1Die verbleibenden Arbeiter*innen befinden sich in einem Schwebezustand, der noch unsicherer wurde, seit im November 2022 Lohnersatzzahlungen eingestellt wurde. Sie sind offiziell weder arbeitslos noch angestellt, also auf Selbstorganisation und den Beistand von Unterstützer*innen und ihrer Familien angewiesen. Dennoch ging das Kollektiv noch einmal in die Offensive. Ein selbst organisierter Volksentscheid wird auf die Beine gestellt, die Verknüpfung zu anderen, ähnlichen Projekten gesucht.Im März dieses Jahres dann sprechen Vertreter*innen des Kollektivs beim Klimastreik in Leipzig. Andere fahren nach Marseille, um sich mit selbstverwalteten Betrieben auszutauschen. Schlussendlich schlagen sie Ende März 2023 notgedrungen den genossenschaftlichen Weg ein. Die Crowdfunding-Kampagne wird ins Leben gerufen. In zwei Runden soll Geld für die Aufnahme der Produktion von Photovoltaikanlagen, Batterien und Lastenfahrrädern gesammelt werden.Die erste Runde mit einem Spendenziel von 170.000 Euro haben sie schon gemeistert. Mit dem Geld sollen Genossenschaftsanteile für Arbeiter*innen ohne finanzielle Rücklagen gedeckt, die Anmeldung der Genossenschaft finanziert und erste Kredite zum Erwerb der Industrieanlagen aufgenommen werden. Runde zwei startet im Sommer dieses Jahres: Im Rahmen eines Equity-Crowdfundings sollen Investitionen für die Wiederaufnahme der Produktion gesammelt werden.Nicht nur aufgrund des ausbleibenden Lohns nehmen aber auch die Spannungen unter den Arbeiter*innen zu. Während ein Teil der Belegschaft mit ganzem Herzen für den Aufbau eines ökosozialistischen Labors in der Toskana kämpft, wächst die Skepsis über das Festhalten an diesem „utopischen“ Plan. Die Gewerkschaft FIOM-CGIL wirbt nämlich ihrerseits für die Annahme eines kürzlich am Verhandlungstisch erreichten Kurzarbeitergeldes und für ein vorzeitiges Ende des Kampfes.Fragt man die Arbeiter*innen des Fabrikkollektivs nach der Gewerkschaft, erntet man ernste Blicke. Ein Großteil von ihnen sei schon lange vor der Entlassung Gewerkschaftsmitglied gewesen. Aber diese lasse sie jetzt im Stich. Sie unterstütze den Kampf in den Verhandlungen und teile Demonstrationsaufrufe, sei aber nicht gewillt, sich ernsthaft mit den konkreten Konversionsplänen auseinanderzusetzen. Fragt man die Gewerkschaft, erklärt sie ihre Zurückhaltung so: Selbstverständlich unterstütze man die Arbeiter*innen am Verhandlungstisch, so gut es geht. Aber die Gründung einer Genossenschaft habe mit den Aufgaben einer Metallgewerkschaft nichts mehr zu tun. Vielmehr würde die Belegschaft damit zu Arbeitgeber*innen und könnten nicht mehr von der Gewerkschaft vertreten werden.Noch ist unklar ist, ob und wann die Maschinen in Campi Bisenzio wieder laufen werden. Doch der Kampf des Collettivo di Fabbrica zeigt schon jetzt: Das Dilemma zwischen Joberhalt und Klimaschutz, das Klima- und Arbeiter*innenbewegung so oft spaltet, kann überwunden werden. Arbeiter*innen, Klimaaktivist*innen und Wissenschaftler*innen können Allianzen schmieden, auf der Suche nach einer besseren Zukunft für alle.Davon ist auch Antonella Bundu, Vertreterin einer linken Liste im florentinischen Rathaus, überzeugt. Sie kämpft politisch für das Kollektiv und versucht EU-Fördergelder für die Umrüstung des Werkes in Campi Bisenzio statt für die Sanierung historischer florentinischer Gebäude zu nutzen. Sie ist so überzeugt von diesem Kampf, dass sie versprochen hat: Sobald die Genossenschaft in die Produktion geht, tritt sie eine Stelle in der neuen Fabrik an.Placeholder authorbio-1