Vor einiger Zeit hatte die Presse Gelegenheit, ein Loblied auf den charismatischen Unternehmer Ratan Tata aus Indien zu singen. Gentlemanlike hat dieser Mann ein britisches Luxusautounternehmen geschluckt, nachdem es ihm zuvor gelungen war, für seine nicht so vermögenden Landsleute ein fahr- und bezahlbares Billigauto zu entwickeln.
Firmenübernahmen dieses Umfangs werden selten so positiv dargestellt. Man glaubt nahezu, Zeuge eines karitativen Aktes zu sein, Wohltätigkeit wird sich über die Firmenmitarbeiter ergießen – aus Indien! Dies wird hier sicher mit einem kritischen Seitenblick auf das Gebaren manch einheimischer Unternehmen herausgestellt. Indien wird aber – und dies ist ein weiterer Unterton in der Berichterstattung – auch nach gut se
ach gut sechzig Jahren der Unabhängigkeit vor allem als ehemalige Kolonie wahrgenommen, die nun zurückschlägt.So können entwicklungspolitisch schlagende Herzen beruhigt aufatmen: die ehemals Unterdrückten sind im Zentrum der ehemaligen Kolonialherren angekommen und wirtschaften dort mit gutem Recht nun für ihren eigenen Profit. Doch natürlich ist es nicht die Kolonie, die zurückschlägt, sondern ein industrielles Großunternehmen, das sich nach den Gesetzen der freien Marktwirtschaft ausbreitet.Indien ist nicht nur eine „ehemalige Kolonie“, sondern eine komplexe Gesellschaft, die, wie jede andere, in soziale Gruppen gespalten ist, wo es zu Spannungen, und Konflikten kommt und sozial schwache marginalisiert, ausgebeutet und unterdrückt werden.Dies scheint eine Binsenweisheit zu sein, doch erfahren wir selten etwas über diese sozialen Konflikte innerhalb der indischen Gesellschaft. In diese Konflikte ist neben anderen Unternehmen auch die Tata Group verwickelt und oft handelt es sich keineswegs um einen „Megadeal mit Samthandschuhen“, wie die Berliner Zeitung im letzten Jahr titelte.Der Hunger nach Rohstoffen treibt Industrieunternehmen seit langem immer weiter in den sogenannten tribal belt hinein. Dieser zieht sich unterhalb der Gangesebene quer durch Indien und zeichnet sich durch zwei Merkmale aus: Hier wohnen, wie der Name sagt, zahlreiche ethnische Gruppen und das Land ist reich an Bodenschätzen aller Art (Bauxit, Eisenerz, Nickel, Mangan).Im heutigen Jharkhand wurde 1912 das erste Stahlwerk der Tata Steel in Betrieb genommen, in der nach dem Begründer des Unternehmens genannten Stadt Jamshedpur. Mit dem Beginn der Liberalisierungspolitik Anfang der neunziger Jahre drängt es immer weitere in- und ausländische Unternehmen in diese Gebiete, die dabei von den jeweiligen Bundesregierungen eifrig unterstützt werden. Industrialisierung gegen die Armut ist das eingängige Motto.Auch Tata Steel plante 2004 ein Werk in Kalinganagar (im Bundesstaat Orissa) zu errichten und kaufte dafür bei der Regierung das nötige Land. Dieses Land war allerdings kein Niemandsland, sondern wurde von Einheimischen bewohnt und bearbeitet.Diese setzen sich gegen ihre Vertreibung und unzureichende Entschädigung zunehmend zur Wehr und so kam es Anfang 2006 in Kalinganagar zu einem Zusammenstoß zwischen der Polizei und der gegen die Baumaßnahmen protestierenden Bevölkerung, bei dem es Tote und Verletzte gab.Dies ist nur einer von vielen Konflikten zwischen den die Industrialisierung vorantreibenden Unternehmen und Regierungen einerseits und betroffenen Bevölkerungsgruppen andererseits, darunter überproportional viele indigene Gruppen, denen nicht nur die Lebensgrundlage genommen, sondern deren Kultur und Lebensweise zerstört wird, wie die People’s Union for Civil Liberties in ihrem Bericht über Kalinganagar schreibt.Jüngst sind nun zwei Bücher erschienen, die einen Einblick in den Prozess der Industrialisierung in Indien und die damit verbundenen sozialen Konflikte vermitteln. Roukela und die Folgen. 50 Jahre industrieller Aufbau und soziale Verantwortung in der deutsch-indischen Zusammenarbeit ist das Ergebnis einer Fachkonferenz, die 2006 in Deutschland stattfand.In Roukela wurde mit deutscher Hilfe ein Hüttenwerk errichtet und es galt nun, 50 Jahre später, nach den sozial-ökonomischen und kulturellen Veränderungen zu fragen, die die dort ansässige Bevölkerung, überwiegend Adivasis, in der Folge erlebte. Die Bihor-Ethnographie und die Folgen. Ein indischer „Stamm“ im Spiegel kolonialer und postkolonialer Beschreibungen ist die Dissertationsschrift von Markus Schleiter, in der er am Beispiel der kleinen Gemeinschaft der Bihor die bisherigen ethnografischen Beschreibungen kritisch untersucht und nach Möglichkeiten einer ethnografischen Repräsentation forscht.Hier wurden bislang zwei Begriffe zur Beschreibung von bestimmten Bevölkerungsgruppen verwendet, um die es vor allem geht: Stamm und Adivasi (Ureinwohner). Es gibt weitere seit längerem gebräuchliche Kategorien zur Beschreibung sozialer Gruppen in Südasien wie Kaste, Unberührbare, geschützte Kasten und Stämme, aber auch neuere Begriffe, zum Beispiel indigene Völker oder soziale Gemeinschaften.Alle diese Begriffe sind Repräsentationen, die ein bestimmtes Ziel verfolgen wie zum Beispiel die Abwertung oder den Schutz bestimmter Gruppen. Kaum einer dieser Begriffe ist geeignet, die historische und gegenwärtige Wirklichkeit dieser Menschen zu erfassen und alle sind daher umstritten.In die Verwirrung der Begriffe sind wir durch die Moderne und ihrer kategorisierenden Wissenschaften gelangt, deren Interesse nach klaren Zu- und Einordnungen eine Diktatur der messbaren Homogenität und Eindeutigkeit anstrebt. Im Falle Indiens verband sich das Wissensinteresse mit dem Herrschaftsinteresse einer Kolonialmacht, die Scharen von Verwaltungsbeamten und Armeeoffizieren, später dann auch Ethnografen durch das Land schickte, um ein verwaltungstechnisch praktikables Ordnungssystem in die ihr sprachlich, kulturell und religiös fremde Bevölkerung zu bringen.Schleiters Arbeit trägt dazu bei, Licht in das Dunkel der Beschreibungen zu bringen. Seine Arbeit ist eine Mischung aus kritischer Sichtung ethnografischer Arbeiten zu Indien allgemein und den Bihor speziell und Darlegung der eigenen ethnografischen Forschung bei den Bihor. Bei diesen handelt es sich um eine soziale Gemeinschaft aus der Region in Chota Nagpur, die im heutigen Indien als primitive tribal group gelten.In der Darlegung seiner eigenen Forschungsarbeit bei den Bihors erweist sich Schleiter als sensibler Beobachter und Teilnehmer. Am Beispiel des Umgangs der Bihor mit der Malaria möchte er zeigen, über welche Vielfalt an Handlungsstrategien diese Menschen verfügen und dass es irreführend ist, essentialistisch von „Stammesleuten“ auszugehen.Anders als Schleiter verwendet der Band Roukela und die Folgen durchgängig den Begriff „Adivasi“ zur Beschreibung von Bevölkerungsgruppen, die infolge der kolonialen und nationalen Geschichte marginalisiert, essentialisiert, ausgebeutet sowie von den Entwicklungsprozessen ausgeschlossen wurden und werden. Das Buch informiert einerseits über das Unvermögen des indischen Staates, sich um gesetzlich verankerten Schutz der Adivasis zu kümmern, andererseits über die deutsche Mitverantwortung in diesem bislang größten deutschen Entwicklungsprojekt.In dem Teil „Deutsche Ansichten“ kommen Vertreter des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, der KfW Entwicklungsbank und der IG Metall sowie ein Manager und ein Sozialwissenschaftler zu Wort. Einen realistischen Einblick in die Schwierigkeiten, die für die unvorbereiteten deutschen Beschäftigten in einer fremden Kultur entstanden, gibt der Bericht des Projektmanagers.Ähnliche Probleme stellt auch der Sozialwissenschaftler Jan Bodo Sperling heraus, doch als einziger wendet er sich ausdrücklich der Lage der Adivasis zu und kritisiert, dass auch heute noch von Managern wie Politikern die inzwischen gesammelten Erfahrungen interkultureller Begegnungen nicht genutzt werden.In dem Teil „Indische Ansichten“ offenbart sich, was die bengalische Schriftstellerin Mahasweta Devi für ein Scheitern der indischen Unabhängigkeit hält angesichts der Situation, in der sich die Adivasis 60 Jahre nach ihrer Erringung befinden.Der menschenverachtende Umgang staatlicher Behörden mit Teilen der eigenen Bevölkerung erinnert an Vorgänge während der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals in unserer eigenen Geschichte: Zwangsumsiedlungen, zum Teil in Nacht-und-Nebel-Aktionen, unzureichende oder ausbleibende Entschädigung, Arbeitslosigkeit, Verschwendung und Zweckentfremdung von Hilfsgeldern sind einige Stichwörter zur Beschreibung der Vorgänge, die betroffen machen, auch ohne im Gegenzug die Adivasis und ihre Kultur idealisieren zu müssen.Industrialisierung bedeutet nicht zwangsläufig verringerte Armut, sondern führt, wie im Falle Indiens dokumentiert, oft zu schärferen sozialen Konflikten, besonders für die durch koloniale wie nationale ethnografische Beschreibung und durch die Ignoranz der indischen Mehrheitsgesellschaft essentialisierten und marginalisierten Adivasis.
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