FREITAG: In krassem Gegensatz zur internationalen Debatte spielt der Begriff Deflation in der deutschen Diskussion über Wirtschafts- und Sozialpolitik bislang kaum eine Rolle. Kaum jemand scheint die Gefahr ernst zu nehmen, dass sinkende Einkommen der Bürger und schwindende Gewinnerwartungen der Unternehmen sich ähnlich wie in Japan zu einer Abwärtsspirale verdichten. Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation?
HEINER FLASSBECK: Die Gefahr einer Deflation ist sehr real. Denn die gesamte Debatte, die in Deutschland geführt wird, läuft auf einen Punkt hinaus: Wir müssen verzichten und den Gürtel enger schnallen. Das ist im Kern eine deflationäre Einstellung, eine deflationäre Politik. In Berlin wurde gerade zwischen dem Senat und der Gewerkschaft ver.di eine erhebliche Kürzung der Gehälter des öffentlichen Dienstes vereinbart. Wenn im nächsten Jahr bundesweit, wie vorgesehen, das Weihnachtsgeld der Beamten gestrichen wird, dann ist auch das ganz explizit deflationäre Politik. Man sollte sich daran erinnern, dass Japan nicht so sehr aufgrund einer falschen Geldpolitik oder einer falschen Haushaltspolitik in die Deflation getrieben wurde. Entscheidend waren vielmehr massive Einkommenseinschnitte, genau so wie in Deutschland 1929/30. Sobald man anfängt, die Löhne runter zu fahren, begibt man sich in die Gefahr eines deflationären Zirkels. Die Effektivlöhne sind schon im vergangenen Jahr in Deutschland kaum noch gestiegen. Und in diesem Jahr wird es vermutlich noch weniger werden.
Welche Optionen bleiben der Politik, wenn die Wirtschaft in einen deflationären Zirkel abdriftet?
Zunächst muss man feststellen, dass sich die politischen Handlungsoptionen dramatisch verringern. Die Geldpolitik kann kaum die Zinsen unter null Prozent senken. Wir müssten sonst den Leuten noch Geld dazu geben, damit sie Kredite aufnehmen. Das ist zwar nicht unmöglich, aber ein äußerst unwahrscheinlicher Fall. Und dann müsste auch die Finanzpolitik noch viel, viel expansiver werden und schuldenfinanzierte Programme auflegen. Das Schwierigste ist, aus einer deflationären Spirale bei der Einkommensentwicklung wieder herauszukommen. In einer Krise die Löhne zu erhöhen - das ist, gemessen an den üblichen Vorstellungen, praktisch nicht möglich. Folglich bleibt nur der Staat, der mit einem gewaltigen Kraftfakt für einen Nachfrageschub sorgen müsste.
Sollte vorsorglich der Stabilitätspakt, der einer solchen Politik in Euroland enge Grenzen setzt, schon jetzt gekündigt werden?
Ja, das hätte man längst tun müssen. Es gibt inzwischen bei den international tätigen Volkswirten eine breite Übereinstimmung, dass dieser Stabilitätspakt eine Schnapsidee war. Er ist für die derzeitige Situation überhaupt nicht geeignet. Diese Diskussion sollte man auch in Deutschland offensiv führen, statt halbherzig zu sagen: Wir ignorieren das jetzt mal für ein oder zwei Jahre, aber dann, 2005, werden wir uns bestimmt daran halten. Wer weiß das denn? Wenn die wirtschaftliche Entwicklung schwach bleibt, wenn die Impulse nicht ausreichen, dann wird man auch 2005 die Verschuldungsgrenzen wieder überschreiten müssen. Dann löst sich dieser Pakt sowieso de facto auf. Besser wäre es - auch für die Vertrauensbildung in Europa - von vornherein zu sagen, dass der Stabilitätspakt ein politischer Fehler war, den man korrigieren muss.
In Deutschland gilt aber Sparen als das Nonplusultra. Niemand ist auf eine solche Diskussion vorbereitet.
Ja, genau da liegt das Problem.
Vielleicht wäre es angesichts der in Deutschland herrschenden kollektiven Verblendung besser, auf einen alten Vorschlag des US-Ökonomen Paul Krugman zurück zu kommen. Er empfahl der japanischen Regierung, Geldsäcke über dem Land abzuwerfen, damit die Konsumenten wieder Geld ausgeben. Dafür müssten sich doch auch die Deutschen begeistern lassen.
In der Not kommt man auf viele Ideen, wie diese berühmten Hubschrauberbeispiele zeigen. Das kann man alles machen. Ganz so weit wie in Japan sind wir in Europa aber noch nicht. Wichtig ist in der momentanen Situation, dass die Politik angesichts einer Einkommensentwicklung, die nach unten gerichtet ist, nicht weiter Enthaltsamkeit predigt, sondern auch mal deutlich sagt: Lasst die Kirche im Dorf und hört auf, weiter die Löhne zu senken. Die Menschen müssen wieder positive Einkommenserwartungen bekommen. Sie müssen darauf vertrauen können, dass ihr Einkommen steigt. Wenn dagegen aufgrund negativer Zukunftserwartungen Angstsparen vorherrscht, nützen auch Steuerentlastungen nichts.
Folglich müsste sich die Politik mit den Gewerkschaften verbünden, um die Einkommen zu stabilisieren und zu erhöhen. Auch das ist in Deutschland momentan extrem unwahrscheinlich. Der Zug fährt genau in die entgegengesetzte Richtung.
In der Tat. Der Kampf gegen die Gewerkschaften, der mittlerweile von fast allen Parteien geführt wird, ist fatal. Dass jetzt eine der wichtigsten Gewerkschaften in eine defensive Position gekommen ist, sicherlich auch durch eigene Fehler, beschleunigt den Zug in Richtung Deflation.
Wenn auch in anderen Teilen dieser Welt die Nachfrage stagniert oder schrumpft, dann besteht die Gefahr, dass es zu Abwertungswettläufen kommt, weil alle gleichzeitig versuchen, sich über eine Verbilligung ihrer Exporte einen größeren Teil vom weltweiten Kuchen zu sichern. Sehen Sie Anzeichen für eine solche Entwicklung?
Die Gefahr ist im Moment ungeheuer groß. In Asien versuchen viele Volkswirtschaften, die im Grunde in einer guten Situation sind, Aufwertungen zu vermeiden, und zwar durch massive Interventionen am Devisenmarkt, Das bedeutet, dass sie die Korrektur, die auch gegenüber dem amerikanischen Dollar notwendig wäre, schlicht nicht zulassen. Das ist so, als wenn wir jetzt beim Euro intervenieren und verhindern würden, dass der Euro gegenüber dem Dollar steigt. Das ist nichts anderes als ein Abwertungswettlauf oder zumindest ein Aufwertungsverhinderungswettlauf. In vielen Teilen dieser Welt gibt es keine wirklichen binnenwirtschaftlichen Impulse. Statt dessen spekulieren allzu viele darauf, dass es der internationale Handel schon richten wird. Bei dem Versuch, positive Salden im Handel zu erzielen, gibt es aber zwangsläufig Gewinner und Verlierer. Internationale Abstimmung wäre also dringend geboten. Dennoch ist beim G8-Gipfel in Evian vor wenigen Wochen nichts dergleichen gesagt worden. Es gab weder Warnungen noch Verabredungen. Wer will denn ausschließen, dass im nächsten Jahr der Dollar noch einmal dramatisch fällt und der Euro dramatisch aufgewertet wird. Dann können wir alles vergessen, was jetzt in Deutschland gemacht wird. Man sollte deshalb das Publikum und die Märkte darauf vorbereiten, dass man im Zweifel bei einer solchen Kursbewegung eingreifen wird.
Halten Sie es für denkbar, dass sich hochentwickelte Volkswirtschaften irgendwann mal darauf einstellen, nur noch qualitativ zu wachsen?
Das gesamte marktwirtschaftliche System ist auf Wachstum abgestellt. Welche Art von Wachstum, darüber kann man streiten. Selbstverständlich wäre auch ein qualitatives Wachstum denkbar, aber nur dann, wenn das System seine Veränderungsdynamik behält. Das müsste sich nicht unmittelbar in hohen traditionellen Wachstumsraten widerspiegeln. Auf jeden Fall kann man dieses System nicht einfach anhalten. Bei Nullwachstum im Sinne von Stillstand würde es irgendwann kollabieren. Denn die Triebfeder dieses Systems ist die Neuerung, die Veränderung, die Zerstörung von alten und der Aufbau von neuen Strukturen. Und das kann nur funktionieren in einer sich entwickelnden Wirtschaft, in der man also positive Zuwachsraten hat. Das können natürlich auch positive Zuwachsraten im Umweltschutz sein.
Würden Sie der These zustimmen, dass die Weltwirtschaft auch deshalb in einem schlechten Zustand ist, weil zu viel Anlage suchendes Kapital zu hohe Verwertungsansprüche erhebt, die auf Dauer nicht bedient werden können.
Die Menge des Kapitals ist nicht das Problem. Ich halte nicht viel von der These, es werde dauernd zu viel Geldkapital gebildet. Richtig ist allerdings, das über eine viel zu lange Zeit Geldvermögen im Verhältnis zum Realkapital zu hoch verzinst wurde. Das kann natürlich nicht auf Dauer funktionieren. In den neunziger Jahren sind sowohl Realkapital als auch Geldvermögen höher verzinst worden als es der allgemeinen Wachstumsrate entsprochen hätte. Das war eine vollkommene Verirrung des Systems. Letztlich können alle Ansprüche nur aus der realen Wachstumsrate bezahlt werden. Dauerhaft auf 15 Prozent Rendite zu bestehen, ist absolut lächerlich.
Und weil diese Ansprüche nicht bedient werden können, so eine weitere These, will das Kapital die bestehenden Verteilungsrelationen zu seinen Gunsten korrigieren.
Ja, das wird seit 20 Jahren versucht und ist auch häufig gelungen. Und diese Umverteilung, zugunsten der Kapitalseite, zu Lasten der Arbeitnehmer, wird von der Öffentlichkeit ignoriert und von der Wissenschaft nicht behandelt. Nur, dieser Versuch einer dauernden Umverteilung scheitert am Ende, weil die Rechnung volkswirtschaftlich nicht aufgeht. Um einen berühmten Spruch zu zitieren: Autos kaufen keine Autos. Anders gesagt: Wenn man den Arbeitern nicht genügend Einkommen gibt, dann kaufen sie eben keine Autos mehr. Dann scheitert der Versuch der Umverteilung zugunsten der Unternehmen, und man endet da, wo wir angefangen haben, in der Deflation. Früher oder später muss ein Regime mit dauernder Umverteilung in eine Richtung zusammenbrechen.
Das Gespräch führte Hans Thie
(*) United Nations Conference on Trade and Development - UN-Behörde für Handel und Entwicklung mit Sitz in Genf
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