Später Nachmittag. Unsere Professorenrunde trifft sich zur Sitzung. Wir warten noch auf die Verspäteten. Einige tippen auf ihren Handys herum. Jemand sagt in die Stille hinein: „Ich hatte mal ein ganz, ganz hässliches Telefon. Das war so rund und hatte die Tasten um den Bildschirm herum angebracht.“ Allgemeines Erstaunen. „So was gab es?!“ Einer ruft: „Das muss das Xelibri von Siemens gewesen sein.“ Er erzählt von Managern, die es auf den Markt bringen wollten und nicht mal den Namen richtig aussprechen konnten. Kurze Pause, dann: „Das wäre ja auch mal ein Fall für Kathrin Passigs Techniktagebuch.“ Alle nicken. Wir nicken immer voller Respekt, wenn der Name „Kathrin Passig“ fällt. Wir lesen ihre
lesen ihre Texte, wir hören ihre Vorträge und verfolgen ihre Projekte, wenn wir auf klare und kluge Weise über den Stand der Dinge in der Netzkultur belehrt werden wollen. Allein an ihrer Performance lässt sich lernen, was es heißt, unter den medialen Bedingungen der Gegenwart intellektuell zu sein.Exemplarisch dafür ist mal wieder das Tagebuchprojekt, von dem der Kollege spricht. Es geht zurück auf eine von Passig beiläufig im Chat gemachte Bemerkung. „Man müsste ein Techniktagebuch führen“, schrieb sie, „und mindestens zweimal jährlich, besser noch öfter aufschreiben, was man gerade macht und warum.“Denn das war Passigs Einsicht: Nichts verändert sich schneller als unsere technische Umgebung. Und nichts vergessen wir schneller als die alte Geräteversion, wenn sie durch eine neue ersetzt wird. Wir haben nicht mehr vor Augen, was Facebook für uns vor sechs Jahren war. Oder Myspace. Immer schwächer werden die Erinnerungen an Disketten und Floppy Disks. Oder an die Telefone mit Kabeln, die sich ständig eingedreht und verknotet haben. Unsere vor Jahrzehnten eingeübten Handgriffe beim Aufnehmen von Hitparaden aus dem Radio lassen sich nur noch aufrufen, wenn man die Augen schließt und sich das Klicken und Klackern des Kassettenrekorders vergegenwärtigt wie der Icherzähler sein Leben in Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.Placeholder authorbio-1Auf dieser Suche ist Kathrin Passig mit ihrem Techniktagebuch. Aber sie sucht nicht allein. Ihre Chronik hat sie im Netz als Blog eingerichtet. Ein fester Autorenstamm füllt ihn nach und nach auf. Dazu gibt es Ergänzungen durch Gastbeiträge. Jeder darf mitmachen. Man muss sich nur an Passigs Regeln halten. Schnödes Technikbashing ist nicht erlaubt. Beschwipste Technikeuphorie auch nicht. Festgehalten werden sollen prägnante Momente im Umgang mit technischen Geräten. Nichts Großes. Nichts Dramatisches. Nichts Überraschendes. Stück für Stück entsteht eine Technikgeschichte, der das Außerordentliche egal ist. Die Helden dieser Geschichte sind die Nutzer, die Bastler und die Cultural Hacker. Gewidmet ist sie allen, die sich mit ihren Geräten arrangiert haben und sie überlisten und umfunktionieren wollten. Das Tagebuch lebt damit von der Hoffnung, dass auch die heutigen User der smarten Geräte nicht nur als bewusstlose Konsumenten handeln, sondern eigene, vielleicht sogar widerständige Praktiken des Gebrauchs entwickeln.Die Vollversion umsonstKathrin Passig zeigt mit ihrem Projekt, wie man auf ganz unaufgeregte Weise ein kollaboratives Netzwerk knüpft. Sie führt vor, wie man Erinnerungen sammelt und ohne Kitsch zusammenfügt. Das Ergebnis ist ein Archiv, das auch zukünftige Technik-, Medien- und Alltagsforscher nutzen können.Aber das ist noch nicht alles. Passig experimentiert zugleich mit den neuen Möglichkeiten des Publizierens. Gerade eben ist das Techniktagebuch als E-Book erschienen. Auch das ohne große Aufregung. Wer will, kann sich den bisher entstandenen Kollektivtext als 2.047-seitiges Dokument herunterladen. Und zwar umsonst. Knapp zwei Euro zahlt nur, wer lieber die Best-of-Version mit 369 Seiten lesen will. Damit wird die alte Bücherlogik auf den Kopf gestellt. Zum einen kostet weniger plötzlich mehr, weil unter den neuen Medienbedingungen dafür bezahlt wird, dass sich jemand die Mühe macht, die unübersichtlichen Massen an Netztexten zu filtern. Zum anderen verwandelt sich das als flüchtig verdächtigte E-Book in eine Zeitkapsel, in der eine Momentaufnahme aus dem Frühjahr 2015 festgehalten wird.Bei so viel Innovation kommt man aus dem respektvollen Nicken gar nicht mehr raus. Allenfalls, um kurz den Kopf zu schütteln, wenn man gleich auf der ersten Netzseite im Techniktagebuch liest: „Ja, jetzt ist das langweilig. Aber in zwanzig Jahren!“ Denn das stimmt ja nun wirklich nicht. Richtig an diesem Satz ist, dass Passigs Projekte tatsächlich so angelegt sind, dass sie mit der Zeit an Wert gewinnen. Das alles wird später mal viel mehr sein als eine kleine Erinnerung in der großen Chronik der fortlaufenden Gegenwart.Placeholder infobox-1