Bären versöhnen

Berlinale Mit der Preisvergabe wurde ein spröder Wettbewerb doch noch zum Schaufenster der Filmkunst
Ausgabe 08/2019
Besonders cineastisch verlief zumindest diese Preisvergabe eines riesigen Plüschbären an Berlinale-Direktor Dieter Kosslick nicht
Besonders cineastisch verlief zumindest diese Preisvergabe eines riesigen Plüschbären an Berlinale-Direktor Dieter Kosslick nicht

Foto: John MacDougall/AFP

Allzu entrückt durfte die Filmkunst in den letzten 18 Jahren auf der Berlinale nicht wirken. Um in den Wettbewerb des von Dieter Kosslick geleiteten Festivals zu gelangen, brauchte sie ein legitimierendes Attribut. Ohne einen Halt in der Wirklichkeit konnte sie in dieser Arena schwer bestehen. Die gesellschaftliche Verantwortung der Filmschaffenden eingeklagt zu haben, wurde während der ersten halben Stunde der Preisverleihung dieser 69. Berlinale vielstimmig als das große Verdienst des nun scheidenden Direktors gefeiert. Allerdings konnte Kosslick auch in seinem letzten Amtsjahr den Verdacht nicht endgültig entkräften, als gelernter Filmförderer die Beiträge wesentlich nach der Papierform auszuwählen. Denn auch dieser, sein letzter Wettbewerb war zeitweilig von der ästhetisch ermattenden Mittellage des Themen- und Gebrauchskinos bestimmt. Die Preisverleihung führte jedoch eindrücklich vor Augen, dass sich die Wege großer Filmkunst und politischer Relevanz durchaus kreuzen können.

So long, my son

Die Jury unter Präsidentin Juliette Binoche besann sich auf die traditionelle Aufgabe eines Festivals: herausragende Leistungen anzuerkennen und einen Scheinwerfer auf junge Talente zu richten. Dafür ließ ihr die Filmauswahl genug Handhabe. Mit dem Großen Preis der Jury für François Ozons Grâce à Dieu wurde ein Film ausgezeichnet, der ein Thema von brennender Aktualität (Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche) voller Empathie mit den Opfern behandelt; Ozon klagt die Institution ohne hochfahrende Regiegesten an, dafür mit hartnäckiger Sensibilität. Der Alfred-Bauer-Preis (für einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet) würdigte den inszenatorischen Elan, mit dem Regisseurin Nora Fingscheidt in Systemsprenger die wütende Verletzlichkeit ihrer neunjährigen Heldin umfängt. Dass der Regiepreis an Ich war zuhause, aber ging, zeigte, dass die individuelle Handschrift Angela Schanelecs nicht nur von einem bestimmten Milieu der heimischen Filmkritik geschätzt wird, sondern zumindest europäische Strahlkraft besitzt. Mit dem Drehbuchpreis für La paranza dei bambini hingegen setzte die Jury ein maßgeblich politisches Zeichen: Sie feierte den widerständigen Mut des Roman- und Co-Autors Roberto Saviano, der in seiner Dankesrede betonte, im Italien Matteo Salvinis sei es „komplexer“ geworden, die Wahrheit zu sagen.

Unter künstlerischen Gesichtspunkten hätte diese Auszeichnung freilich Wang Xiaoshuais atemberaubendes Familienepos So Long, My Son verdient, dessen raffinierte Verschachtelung der Zeitebenen das Publikum vor eine kluge Herausforderung stellt. Die Darstellerpreise an Yong Mei und Wang Jingchun wogen dieses Versäumnis hervorragend auf: Sie tragen den Film wundervoll über seine Länge von drei Stunden. Als sie in ihren Dankesreden vorsichtig von den „schwierigen Umständen“ sprachen, unter denen Wangs Film entstand, war dies als ein Kommentar zur Unberechenbarkeit der chinesischen Zensur lesbar. Immerhin war Zhang Yimous One Second wenige Tage zuvor aus dem Wettbewerb zurückgezogen worden. Wangs Anklage eines Regimes, dessen Ein-Kind-Politik brutal in Familienleben eingriff, bestätigte die beliebige diesjährige Festival-Maxime, dass das Private politisch sei.

Das provokative Potenzial des Siegerfilms hingegen, Nadav Lapids Synonymes, ist zunächst ein rein kinetisches: Die rastlose Kamera dringt ungemütlich in die persönliche Sphäre des Zuschauers ein. Synonymes wirkt zuzeiten wie das filmische Äquivalent eines psychotischen Schubs, verliert zwischendurch aber an Dringlichkeit. Die rabiate Auslöschung der eigenen Identität, die ein junger israelischer Armeeveteran in Paris durch eine neue ersetzen will, ließe sich als Metapher für den Wechsel lesen, der sich jetzt an der Spitze der Berlinale vollzieht. Einmal versucht ein Landsmann des Helden, in der Metro einen antisemitischen Affekt zu provozieren, was aber nicht verfängt. Mit bösem Willen mag man auch das als Sinnbild lesen für ein Festival, das in den letzten 18 Jahren politische Angriffslust beweisen wollte, aber letzthin nur Debatten über die eigene Krise und Zukunft auslöste.

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