Bahnhofsvorplatz

Kehrseite II Drei Geschichten

Bahnhofsvorplatz

So viele Menschen! Ich selber heiße Franz Müller. Über den Bahnhofsvorplatz zu queren macht mir Spaß. Ich stärke meine Beine morgens mit Honig und abends mit Bier. Auf dem Asphalt sind Ölflecken, die unter mir nach hinten wandern. Ich muss sagen, ich überquere den Bahnhofsvorplatz mit Gewinn. Andere sagen, ihr Leben verlöre hier viel Zeit. Wenn freilich Glasscherben auf dem Bahnhofsvorplatz liegen, dann blute ich manchmal. Jenseits des Bahnhofsvorplatzes beginnt die Fußgängerzone. Sie ist ebenfalls interessant und lockt viele Menschen an. Alle müssen erst quer über den Bahnhofsvorplatz.


Gespräch mit Kipfel

Ein riesiger Schreibtisch trennte uns. Kipfel saß gegenüber, auf der wichtigeren Seite. Eine polierte tiefschwarze Steinplatte, mit einem Reißverschluss in der Mitte, sowas hatte ich auch noch nicht gesehen. Ich denke immer, ein Gespräch, das an der Oberfläche bleibt, bringt nichts. Kipfel schien der gleichen Meinung zu sein. Er öffnete den Reißverschluss, dessen Steinteile ein angenehmes, dunkles Klacken hören ließen. Dann schob er die Hälften auseinander, das ging leicht und lautlos, und rollte mit seinem Stuhl so weit nach vorn, dass er mich in den Kniekehlen fassen und zu sich hinziehen konnte. Ein blödes Kitzeln, aber jetzt saßen wir Knie an Knie. Es sollte ja ein eingehendes Gespräch werden, so stand es in der E-Mail, die ich von seinem Vorzimmer bekommen hatte. Er würde mich "ins Gebet nehmen" hatte ein Teamkollege gemeint. Kipfel fragte mich, ob ich nicht vorhätte, verstärkt in Osteuropa zu sourcen. Unser Gespräch kam nicht richtig in Gang, denn Kipfels Augen waren von einer durchscheinenden bräunlichen Haut verdeckt, einer Art Membran, die den ganzen Kopf überzog. Auch seine Haare waren nicht mehr zu sehen. Ich wusste doch, dass Kipfel nicht glatzköpfig war. In dieser Situation kam mir die Unkrautkralle zustatten, die ich am Vormittag gekauft hatte. Ein unterarmlanges Garteninstrument mit fünf spitzen Zacken. Das setzte ich an Kipfels Gesicht an. Zwei, drei kräftige Züge, und schon hatte ich ihn von der überflüssigen Haut befreit, die uns ebenso trennte, wie vorher der Schreibtisch. Auf Kipfels Schädel kam aber kein üppiges Haupthaar zum Vorschein, nur eine blutige Fläche, insofern hatte ich mich geirrt. Auch sein Blick wurde nicht klarer. Zwei kleine Bälle rollten über den Boden, die an weißgekochte Karpfenaugen erinnerten. Mir fiel jetzt nicht ein, wo man auf die Schnelle zwei neue Augen sourcen konnte. Dafür war eine andere Abteilung zuständig. Kipfel, etwas derangiert, streckte seine Hand mal in die eine, mal in die andere Richtung. Ich drückte sie ihm und gab im Vorzimmer Bescheid, dass ich meinen Resturlaub antreten würde.


Ich bin der Masseur des Ministers

Unter meinen Pranken wird er zur Teigwurst. Schwarze Borsten kommen an manchen Stellen aus dem Mehl, graue Locken an anderen. Wälze ich ihn kräftig hin und her, dann läuft er blau an wie ein gestresster Säugling und pinkelt Tinte aufs Leintuch. Nur ich weiss, welche Talgreserven noch in seinen Rückenporen stecken. Sanft kitzelt das Körperhaar des Ministers für Verkehr die Innenflächen meiner Hände. Bewege ich jedoch seine linke Schulter, dann schreit er so laut wie damals, als man ihm die Binnenschifffahrt wegnehmen wollte. Danach kommt jedesmal sein Vorzimmer gelaufen. Ich beruhige die Situation, indem ich sage: "Frau Mertens, ich verstehe mein Fach!". Ich bin der Masseur des Ministers.

Rupprecht Mayer ist Autor und Übersetzer, er lebt in Berlin und Burghausen.


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