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SPD-PARTEITAG Antje Radcke, Bündnis 90 / Die Grünen

FREITAG: Die SPD wollte sich für das neue Jahrtausend rüsten, haben sie eine konkrete Utopie entdeckt?

ANTJE RADCKE: Wenn ich ehrlich bin, nein. Allerdings Ansätze ... zwar nicht in der Frage des Atomausstiegs. Das mag damit zusammenhängen, dass das Thema ohnehin umstritten ist und die SPD ihren Parteitag damit nicht kontrovers belasten wollte. Aber Grüne haben sich wiederfinden können im Beschluss, keine Panzer an die Türkei zu liefern und dem zur Asylgesetzgebung.

Ihre eigene Partei ist durch die Beteiligung am Kosovo-Krieg heftig geschüttelt worden. Wundert Sie nicht, dass die Frage Krieg und Frieden von der SPD nicht berührt wurde?

Das hat mich sehr gewundert. Meine Erfahrung ist, dass diese Frage bei allen öffentlichen Veranstaltungen eine große Rolle spielt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein grüner Parteitag sie hätte ausklammern können.

Hat die SPD damit kein Problem?

Alle tun sich schwer, die Debatte wieder aufzurollen. Ich selber zerbreche mir den Kopf, wie man den Diskussionsprozess anstoßen könnte, ohne ihn rückwärts gewandt zu führen. Es geht mir nicht darum, die Entscheidung zu rechtfertigen, sondern aufzuarbeiten, was eigentlich passiert ist, was die Folgen sind, und welche Konsequenzen wir für die Zukunft daraus ziehen müssen.

Den Beschluss, mögliche Panzerlieferungen an die Türkei zu verhindern, hat der Kanzler als nicht allzu verbindlich bewertet. Haben Parteitage keinen Einfluss auf das, was die Partei an der Regierung tut?

Bei einer Volkspartei wie der SPD repräsentiert die Basis sehr viel mehr als sich selbst: einen großen Teil der Gesellschaft nämlich. Tatsächlich gibt es eine Diskrepanz zwischen dem, was die Parteitage wollen, und dem, was in der Regierung durchsetzbar ist. Das ist für beide Seiten aushaltbar. Die Partei muss die Zukunftsperspektive aufmachen, eine Regierung dann auch die kleinen Schritte tun, die in diese Richtung getan werden können. Mir ist während des SPD-Parteitages aber bewusst geworden, dass es doch eine sehr viel größere Mehrheit in der Gesellschaft gegen die Panzerlieferungen gibt. Das muss für uns Grüne ein Signal sein, an diesem Thema weiter zu arbeiten, um das ganze Potential zu mobilisieren und zu motivieren.

Unabhängig davon, dass die Türkei jetzt den Status eines EU-Beitrittskandidaten hat?

Es müssen Fortschritte im System erkennbar sein, Schritte zur Demokratisierung. Sollte die Türkei irgendwann Vollmitglied sein, geht das ja nur, wenn sie sich den Spielregeln, auch den Menschenrechtsregeln der EU komplett unterordnet. Es reicht nicht, möglicherweise auf die Vollstreckung der Todestrafe zu verzichten oder verbal zu bekunden, zurückkehrende kurdische Menschen sollen nicht inhaftiert werden.

Das individuelle Asylrecht wollte der SPD-Parteitag erhalten wissen. Nur, gibt es das einklagbare Asylrecht, das hier verteidigt wird, überhaupt noch? Ist die reale Chance, einen Anwalt zu bemühen, nicht gleich Null?

Das ist ein riesiges Problem. Das Recht, das wir ja haben, wird so rigide ausgelegt, dass immer weniger Menschen den Anspruch überhaupt noch erhalten. Umso entsetzter waren wir, als Innenminister Schily diesen kleinen Rest auch noch aufweichen wollte. Kurz vor dem Tag der Menschenrechte zog die SPD die Notbremse. Bevor wir mit dem Finger auf andere zeigen, sollten wir uns vor Augen führen, dass auch bei uns unwürdig mit Menschen umgegangen wird. Ich denke, bei der SPD wirkt noch das Trauma der Mitverantwortung für das Asylrecht in der jetzigen Form. Das war für mich ja der Punkt, die SPD zu verlassen. Die damalige Debatte hatte viele Verwerfungen zur Folge. Der Beschluss sagt nun: "Stop", nicht noch weiter, das hat uns schon einmal unsere Glaubwürdigkeit gekostet, da müssen wir Schranken setzen.

Der Kanzler und Parteivorsitzende hat das Machbare beschworen. Ist das in Ihrer Partei, die ja das Undenkbare zu ihrem Ausgangspunkt machte, zu vermitteln?

Man muss eine Balance finden. Wenn man Beschlüsse nur noch nach außen verkündet, nimmt man sich die Chance, in der Öffentlichkeit zu überzeugen. Ich halte für unsere Partei daran fest, dass wir ein gewisses Maß an öffentlicher Diskussion brauchen, allerdings: In der Regierungsverantwortung muss man darauf achten, dass sie nicht beliebig oft und an jeder Ecke entsteht, insbesondere dann nicht, wenn sie sich von der Programmatik entfernt und Wählerinnen und Wähler sie nicht mehr nachvollziehen können.

Kanzler Schröder hat die Linke erfolgreich hinter sich gebracht. Ein bisschen vergleichbar mit der Art, wie Fischer die Grünen hinter sich versammelte. Ist wieder die Zeit der starken Männer?

Es gehört ein großes Maß an innerer Überzeugtheit dazu. Schröder konnte die Vorstellung wecken: Wir wissen wieder, warum wir in der Partei sind, wofür wir kämpfen. Das ist auch Fischer in Wahlkämpfen brillant gelungen. Als Außenminister hat er weniger Zeit dazu. Aber vielleicht ist das ja auch eine Chance für starke Frauen.

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