Gerade wegen seines gewundenen sozialistischen Gangs hielt das offizielle Kunstleben in der DDR manche Überraschung bereit. Das Publikum einer der großen Dresdner Kunstausstellungen beispielsweise staunte nicht schlecht, als es, eingeschworen auf Volksverbundenheit und Parteilichkeit, statt einer heroisch in Öl gepinselten nackten Bestarbeiter-Phalanx in halleschem Knitterstil eines scheinbar aus der Zeit gefallenen Brigadebildes von Werner Tübke ansichtig wurde, das zudem noch in unmittelbarer Nähe einer weiteren artistischen Glanzleistung, des Gemäldes Bildnis eines sizilianischen Großgrundbesitzers mit Marionetten hing.
Tübkes Gruppenbild von 1972, wie für die Ewigkeit mit Tempera auf Leinwand gemalt und auf eine Holztafel aufgezogen, zeigt ei
fel aufgezogen, zeigt eine stehende Gruppe von Männern mit stolz geschwellter Brust. Anordnung der Personen, Arbeitskleidung und Helm lassen einen Vorarbeiter erkennen, der sich im Kreise seiner sechs Kollegen vom Bau als Schöngeist positioniert. Der Anlass der wenig spektakulären Zusammenkunft auf einem Gerüst hätte der einer Brigadeberatung sein können, so wie sie in der sozialistischen Produktion tagaus tagein im Rahmen der Erfüllung der Fünfjahrpläne veranstaltet wurde, um dem renitenten Arbeitervolk Klassenbewusstsein einzubläuen und einfach die Wartezeiten auf Materiallieferungen abzukürzen. Aber Werner Tübke, schon damals auf dem Renaissancetrip und tief verstrickt in Wahlverwandtschaften mit Meistern des 16. bis 18. Jahrhunderts, hatte statt des zu erwartenden heroischen Proletenpathos eine Komposition im Stil einer "Santa conversazione" erstellt. Die Ausstellungsbesucher waren ob solcher Grandezza schockiert. Arbeiter als altmeisterlich gemalte Heilige dargestellt zu sehen, ließ auf Probleme im Stoffwechsel des Künstlers mit der Partei schließen. Da fehlten selbst abgebrühten Propagandisten plötzlich die Argumente. Denn gerade erst hatte sich das sozialistische Brigadebild als Topos, als mehr oder weniger normierte Illustration heruntergehudelter Ergebenheitsadressen im Jahrzehnt nach dem Mauerbau etabliert, da kam Werner Tübke mit dieser wahrlich systembrechenden Verkomplizierung der Verhältnisse. Außerdem strahlte dieses Bild Ruhe und Erhabenheit aus, als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Während die stalinistischen Blitzmerker und Schnellmaler des neoexpressionistischen Zweigs der Leipziger Schule auf die Überholspur einschwenkten, begann Werner Tübke nach dem zu fragen, was den sozialistischen Menschen in seiner wahrnehmungsphysiologischen Langsamkeit definiert. Verkehrte Welt.Anfangs gelang es Tübke ohne Schwierigkeiten, mit dem ungeschriebenen Vorgabenkatalog des sozialistischen Realismus zurecht zu kommen. Er dokumentierte 24-jährig Mitte der fünfziger Jahre die Weltfestspiele der Jugend und Studenten und wichtige Provinzereignisse wie den 1. Mai 1954 im Klubhaus der Leunawerke oder die Eröffnung der Staatsoper durch Wilhem Pieck (1955/56). Keine staatstragenden Bilderdienstleistungen waren das, aber doch erste Anzeichen für eine Positionsbestimmung, die auf Einhaltung der Spielregeln im Zirkel der Macht ausgerichtet war. Ob Weißer Terror in Ungarn 1956 (1957), Hiroshima (1958), Spanien 1936 (1958) oder die parteilich-progressive und zugleich dekorative Erdteilerkundung mit den Bildtafeln Australien, Afrika, Amerika, Asien und Europa, die das Leipziger Interhotel Astoria im End-fünfziger-Jahre-Schick schmücken sollten - Tübke zog so ziemlich alles auf seine Staffelei, traute Kollegen nur begrenzt und agierte clever zwischen ZK-Spitze und den Parteiflügeln im Leipziger Künstlerverband, deren Vorsitzender er 1962 wurde. Der Burgfrieden hielt Jahrzehnte.Kurz zuvor hatte er sich in gleich vier Triptychen der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung zwischen 1914 und 1945 gewidmet, nach 1965 folgte mit Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze eine mehrere Jahre andauernde Auseinandersetzung mit der Zeit des Faschismus, mit Regimeverstrickung, Nazi-Paranoia, Schuld und Sühne, wobei es Tübke gelang, ein höllisch labyrinthisch poetisiertes Koordinatensystem zu entwickeln, für das Studenten der Kunstwissenschaft und Parteigenossen Spezial-Vorlesungen besuchten, aber am Ende doch nur die Hälfte verstanden. Das war das Ende des klassisch-realistischen Tübke und der magische Moment, in dem der Kosmos Tübke über die Weltwirklichkeiten triumphierte, das Innere, Ich-Ich und Kunst-Ich mit sich vereinend und geschützt vor dem Zugriff der Ideologen.Es dauerte geraume Zeit bis der Funktionärsapparat mit dieser Taktik Tübkes zurecht kam, dabei war seine Auftragswilligkeit ungebrochen: Von 1971 bis 1973 entwickelte er mit dem für die Universität Leipzig geplanten Mega-Wandbild Arbeiterklasse und Intelligenz einen Mummenschanz, über den sich die Musenjünglinge der nachfolgenden Künstlergeneration in Leipzig, Dresden und Ost-Berlin schlapp lachten wegen Tübkes Hang zum Gesundbeten der zweifellos in den Niederungen der sozialistischen Produktion überall vorhandenen Feindlichkeiten zwischen Hammer und Zirkel. Nichtsdestotrotz avancierte diese gemalte Sozial-Fiktion Tübkes allen Ernstes zum Beweis gelöster Widersprüche.Tübke hatte einen verklausulierten Bildteppich gewebt, der ganz anders aussah als der Holzhammer-Realismus der Agitatoren. Spitzpinselig infiltrierte der Leipziger Sonderling dem sozialistischen Bilderaltlas eine Beschwichtigungsrhetorik, die den in pseudodialektischem Doppeldenken geschulten Fürsorgeapparat mit Gewinnerstolz erfüllte und das Parteivolk ungläubig staunen ließ.Musste sich Tübke in der Ulbricht-Ära noch mit Privilegierten-Problemchen herumschlagen, so stand er unter Honecker völlig frei und auf erhöhtem Posten. 1972 wurde er zum Professor an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst ernannt und 1973 mit dem Rektorenposten bedacht (von dem er sich 1976 entbinden ließ, um sich ganz seinem Hauptauftrag, dem Bauernkriegs-Panorama für Bad Frankenhausen zu widmen), außerdem wurde er dekoriert mit dem Kunstpreis der Stadt Leipzig, dem Banner der Arbeit, dem Nationalpreis der DDR (und zwar gleich doppelt), dem Kunstpreis des FDGB und dem Käthe-Kollwitz-Preis der Akademie der Künste. Die DDR machte Staat mit Werner Tübke.Die Mailänder Galleria del Levante von Emilio Bertonati holte ihn 1971 erstmals nach Italien, übrigens ohne dass es dafür irgendeine zwischenstaatliche Abmachung gab, und Tübke wird fortan zum geschätzten Devisenbringer und indirekten Kulturbotschafter mit zugebilligter Bewegungsfreiheit in alle Himmelsrichtungen.Derart entbunden von den Mühen der sozialistischen Ebene ließ es sich leben in der DDR als "vollinformierter Europäer" und "unabhängig von der Umgebung", wie Tübke nicht müde wurde zu betonen. Dass er sein "riesiges Tagebuch, in alte Gewänder gekleidet" über 30 Jahre unter anhaltenden Kulturkampfbedingungen fortschreiben konnte ("fremdbestimmt hält man das nicht durch die vielen Jahre"), stellt eine Ausnahme im Kunstkontext DDR dar, etwas, das es eigentlich gar nicht hätte geben können nach Maßgabe der Punktrichter in den Zeiten des Ost-West-Konflikts: das gelebte Dilemma des postmodernen Künstlers, Abweichler und Komplize gleichzeitig zu sein. Man darf gewiss sein, dass der "Künstler und Kunstwissenschaftler" Werner Tübke, Ehrendoktor der Leipziger Universität, sich dessen bewusst war und dass er, wie alle Großmeister der Kunst, verklärend an seinem Mythos strickte.Nun ist Werner Tübke tot. Er starb am 27. Mai in Leipzig, zwei Monate vor Vollendung seines 75. Lebensjahres.Nach der Wende resümierte er: "Übrigens die einzig vernünftige Position, die man als Artist haben kann, ist l´art pour l´art. Ich bin da, um Bilder herzustellen, sonst gar nichts. Kunst als Waffe, oder als Gehirnreinigung, nein. ... Brecht geht mir auf den Wecker, dieses didaktische Moment ... Wenn jemand nicht hinschauen will, soll er es auch nicht." Das klang nach höchst subjektivem Aussageanspruch und zugleich nach Widerspruch zu dem Parteitagskauderwelsch der SED-Oberlehrer. Es gab aber auch den Werner Tübke, der keck Schulter an Schulter mit der Partei das volkseigene Naherlebnis suchte und, durchaus gut auf Linie, im Mai 1971 in einer Rede im Leipziger Opernhaus anlässlich einer Manifestation von Kunstschaffenden des Bezirkes zum bevorstehenden VIII. Parteitag der SED tönte: "Nicht von weitem: Unmittelbarkeit ist gefragt."Der ganze Tübke oszilliert unentscheidbar zwischen einer privaten und einer politischen Lesart, auch wenn der Artist Tübke seinen Spagat gern als rein äquilibristische, einfach aus der Zeit fallende Übung verkauft hätte. "Ich habe ein sehr gebrochenes Verhältnis zur Zeitachse", ließ er 1991 in Texte zur Kunst wissen, "für mich gibt es eigentlich nur ein punktuelles Jetzt ... In der Villa Borghese, vor einigen Jahren, ging ich einmal auf Die Marter der 10.000 von Pontormo zu und glaubte für einen Augenblick, dass da ein Bild von mir hinge." Das klingt nicht nur im Hinblick auf Werner Tübke aufschlussreich, sondern stellt auch die 100.000 Besucher in ein anderes Licht, die jährlich auf den alten Schlachtberg über Bad Frankenhausen pilgern, um Tübkes monumentalem Vermächtnis, dem 1.800 Quadratmeter-Rundgemälde Frühbürgerliche Revolution in Deutschland zu huldigen.In Tübkes gegenwartsskeptischen Bildern, die auch die Avantgarde endgültig zu Grabe tragen, wird erlebbar, dass sich Zeitbilder permanent überschneiden und dass in der ganzheitlich empfundenen Langsamkeit, im verlängerten Zeittakt und im Verzicht auf die Atemlosigkeit eine Qualität liegt, die seit den Aufbrüchen der jungen Künstlergeneration der DDR der achtziger Jahre und in frecher Vatermördermanier negiert wurde, verständlicherweise wegen des real erlebbaren todlangweiligen gesellschaftlichen Zähflusses.Wäre es nicht an der Zeit, die Aufmerksamkeitsspanne zu erweitern und Tübkes Werk, gerade auch seine Zeichnungen, Aquarelle und Lithographien, wiederzuentdecken - als Präzedenzfälle des Nachdenkens über Arkadien und längst verschüttete Utopien?
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