Bananenrepublik

Ost-West Die Debatten über Unterschiede und Gemeinsamkeiten wollen nicht enden. Sollte nicht endlich mal Schluss sein damit?
Ausgabe 51/2017
Bananenrepublik

Illustration: der Freitag

Wie ist ein typischer Ossi und wie ein typischer Wessi? Ist Herkunft „vererbbar“? Und wie wichtig ist das alles noch für junge Menschen, die gesamtdeutsch aufgewachsen sind? Ein Streitgespräch über Werte und Lebensleistungen, Demokratie, Religion und Identitäten zwischen der „Ostfrau“ Daniela Dahn und dem „Westmann“ Micha Brumlik.

der Freitag: Wann haben Sie das letzte Mal Jägerschnitzel gegessen?

Daniela Dahn: Das habe ich schon zu DDR-Zeiten gemieden.

Micha Brumlik: Vor sieben, acht Jahren etwa.

Und was haben Sie da gegessen?

Brumlik: Rindfleisch mit einer Pilzsoße.

Dahn: Panierte Jagdwurst mit einer geschmacklosen Tomatensoße und Makkaroni.

Hinter dieser ironischen Frage steckt eine ernsthafte: In welcher Situation haben Sie persönlich zuletzt gemerkt, dass Sie aus dem Westen beziehungsweise aus dem Osten kommen? Das Jägerschnitzel heißt zwar gleich, ist in Ost und West aber eben etwas völlig anderes.

Dahn: Ich war neulich im Museum Barberini in Potsdam. Dort wird gerade DDR-Kunst präsentiert, endlich mal anspruchsvoll. Trotzdem hatte ich das Gefühl, die Werke werden wohlwollend betrachtet wie die Kunst von fernen Exoten. Die Deutung kam aus der wissenden, westlichen Welt. Und so habe ich mich etwas fremd gefühlt, obwohl es eine gutgemeinte und wichtige Geste ist.

Brumlik: Das letzte Mal habe ich nach der Bundestagswahl darüber nachgedacht. Ich habe mich angesichts der vergleichsweise hohen Wahlerfolge der AfD in Sachsen und Sachsen-Anhalt gefragt, ob diese mit 40 Jahren SED-Diktatur zu tun haben könnten? Mit einem gewissen Mangel an Weltläufigkeit und demokratischem Freiheitsgedanken? Mir ist bewusst, dass die AfD ebenso in wohlhabenden, westdeutschen Regionen, etwa im Süden Baden-Württembergs, starke Ergebnisse erzielt hat. Ich habe mich das trotzdem gefragt.

Zur Person

Daniela Dahn, geboren 1949 in Ostberlin, ist Journalistin und Buchautorin. 1989 war sie Mitgründerin der DDR-Oppositionellengruppe Demokratischer Aufbruch. Eins ihrer Bücher trägt den Titel Wehe dem Sieger! Ohne Osten kein Westen (Rowohlt)

Ist die Bundesrepublik nach fast 30 Jahren deutscher Einheit immer noch geteilt?

Dahn: Vieles ist zusammengewachsen und normaler geworden: Die Städte im Osten sind saniert, viele Menschen sind heute wohlhabender, die Leute reisen selbstverständlich und viel in der Welt herum, besuchen ihre dort studierenden Kinder. Trotzdem: Ich finde es interessant, dass Sie bei der Frage des starken AfD-Wahlergebnisses die Ursachen zunächst allein in der DDR suchen und nicht auch in den vergangenen 25 Jahren. Da findet man nämlich einige Erklärungsmuster.

Welche?

Dahn: Das Wahlergebnis offenbart die Fehler dieser Vereinigung. Ich kann nicht für alle Ostdeutschen sprechen – die sind, wie alle Menschen, höchst verschieden –, aber belegt ist, dass sich eine Mehrheit mit ihren Erfahrungen und Kenntnissen nicht anerkannt fühlt. Dass sie ihre Lebensleistung nicht gewürdigt sieht.

Was meinen Sie damit?

Dahn: Die Ostdeutschen wollen nicht, dass man ihnen auf die Schulter klopft und sagt: Das habt ihr ganz toll gemacht. Aber bis heute sind sie in politischen Führungspositionen und dort, wo es um Deutungshoheit geht, nicht genügend vertreten.

Sie spielen auf die Studie der Universität Leipzig und des Mitteldeutschen Rundfunks „Wer beherrscht den Osten?“ von 2014 an.

Dahn: Und auf den Sachsenmonitor. Danach sagen über 70 Prozent der Ostdeutschen heute, dass es schwierig sei, eigene Rechte beim Staat durchzusetzen. Meines Erachtens spiegelt sich darin kein sozialer Frust, sondern ein kultureller und mentaler. Der hat sich bei der vergangenen Bundestagswahl entladen. Früher konnte man Protest zeigen, indem man die PDS wählte. Wenn man heute die Linkspartei wählt, ärgert man niemanden mehr, die Partei ist weitestgehend etabliert. Aber sein Kreuz bei der AfD zu machen, das ärgert.

Brumlik: Wie soll Lebensleistung denn anerkannt werden?

Dahn: Ein Beispiel, das ich in meinem Buch Wir bleiben hier oder Wem gehört der Osten 1994 beschrieben habe: Nach der Wende wurden aus dem Westen 2,2 Millionen Anträge auf Rückgabe von Wohnimmobilien im Osten gestellt. Wenn man das hochrechnet, waren über acht Millionen Ostdeutsche von der Sorge betroffen, ihre Häuser, Wohnungen oder Grundstücke räumen zu müssen. Obwohl sie nach DDR-Recht die Besitzer waren. Anträge von Ostlern im Westen waren nicht möglich, obwohl es auch solche Fälle gab. Damals hat der Gesetzgeber für einseitige Umverteilung gesorgt. Und eins ist klar: Wo kein Haben ist, da ist kein Sagen.

Brumlik: Ich verstehe immer noch nicht, wie Lebensleistung anerkannt werden sollte?

Dahn: Manchmal hätte es genügt, nicht schikaniert zu werden. Es gab einen Uni-Rektor, der nach seinem Rauswurf Hausverbot bekam und die Uni-Bibliothek nicht mehr betreten durfte. Oder wie Rudolf Mühlfenzl ...

... der frühere Rundfunkbeauftragte für die neuen Länder, der das DDR-Fernsehen und die DDR-Hörfunksender abgewickelt hat ...

Dahn: ... Journalisten rausgeworfen hat, das war unvorstellbar. Es hat ein Telefon in einem leeren Raum gegeben, die Journalisten gingen da einzeln rein, nahmen den Hörer ab und Mühlfenzl sagte – angeblich wie Gottvater – einen Satz: Sie werden übernommen; oder: Sie werden nicht übernommen. Dann musste man auflegen und der Nächste kam. Das war demütigend.

Brumlik: Dabei ist doch sicher auch wichtig, ob jemand hoher Parteikader war oder nicht?

Dahn: Die waren doch zu dem Zeitpunkt alle schon entlassen ... Alle anderen mussten sich dieser Prozedur unterziehen.

Wie hätte es denn besser funktioniert?

Dahn: Ich hätte mir etwas mehr Neugier auf Erprobtes gewünscht. Die DDR war ja bekanntlich nicht sehr wohlhabend, trotzdem wurde beispielsweise viel Geld in den Containerverkehr auf der Schiene investiert, öffentliche Verkehrsmittel waren stark subventioniert. Ich finde es fast müßig, das Modell der Polikliniken zu erwähnen, die Rundumkinderbetreuung. Es gab ein weltweit einzigartiges Krebsregister, das nun mühsam wieder eingeführt wird. Jetzt fordert die SPD eine Bürgerversicherung, die hatte die DDR längst. Der Westen konnte nicht aufhören zu siegen und hat einfach alles verschrottet, was da war.

Was hat das mit dem persönlichen Leben der Menschen zu tun?

Dahn: Das war die Lebensleistung vieler Leute, die da verschrottet wurde.

Was macht die Identität der Ostdeutschen aus?

Dahn: Ich habe ein Problem mit dem Wort Identität, ich spreche lieber von Mentalität. Kaum ein Ostdeutscher war mit der DDR identisch. Überall wurde gemeckert, mal mehr, mal weniger öffentlich.

Merken Sie, dass Sie auf verschiedenen Seiten geboren worden sind? Spüren Sie, dass das Teil Ihrer Identität oder Mentalität ist?

Brumlik: Ich bin froh, dass es mir erspart geblieben ist, dass meine Eltern in die DDR gegangen sind. Und ja, ich habe eine westliche Identität. Ich bin ein selbstbewusster Bürger der Bundesrepublik Deutschland.

Zur Person

Micha Brumlik, 1947 in Davos (Schweiz) als Kind jüdischer Flüchtlinge geboren, ist Erziehungswissenschaftler und Publizist. Bis zu seiner Emeritierung 2013 war er Professor an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main

Dahn: Ich wollte immer schon in einer Demokratie leben, aber nie im Kapitalismus. Insofern bin ich mit sehr gemischten Gefühlen in die Einheit gegangen. Und die sind bis heute nicht weniger geworden. Es ist mir nicht wichtig, eine bestimmte Mentalität zu haben. Ich würde viel lieber die Erfahrung machen, dass wir uns alle dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen. Trotzdem merke ich, dass manche Prägungen dauerhaft sind.

Zum Beispiel?

Dahn: Nirgends auf der Welt gibt es anteilmäßig so viele Atheisten wie in Ostdeutschland.

Brumlik: Furchtbar.

Dahn: Nein, ganz wunderbar.

Brumlik: Das ist ein Verlust an kulturellem Wissen.

Dahn: Genau das Klischee habe ich erwartet: Immer diese Atheisten, die keine Kultur und keine Werte haben. Selbst im Realsozialismus wurde versucht, eine Kultur zu schaffen. Internationale Solidarität, Glaube an Menschlichkeit, Vernunft, soziale Gleichheit, so was. Man muss nicht in jedem Fall auf christliche oder jüdische Werte zurückgreifen. Es gab auch in der Arbeiterbewegung Werte, die völlig in Ordnung sind.

Brumlik: Wer wollte denn das bestreiten?

Dahn: Dann sprechen Sie doch der anderen Seite nicht Kulturlosigkeit zu.

Brumlik: Ich rede von einem Verlust an kulturellem Wissen. Man kann beispielsweise mittelalterliche Kunst und Kultur nicht verstehen, wenn man keine Ahnung von der Glaubensgeschichte hat.

Dahn: Natürlich gehört das Wissen über biblische Geschichte und Religionen zur Allgemeinbildung. Wie gut, dass der Ethikunterricht das heute lehrt. Ich bin glücklicherweise nicht ganz unwissend aufgewachsen. Es gibt auch die Theorie, nach der ein gewisses Nichtbetroffensein von sektenhaften Feindseligkeiten Vorteile bringt.

Welche?

Dahn: Atheisten lässt der erbitterte Streit darüber, wer nun der richtige Messias ist, ziemlich kalt.

Brumlik: Ich halte es für keinen Zufall, dass die stärksten Kritiker der SED-Diktatur aus den Kirchen in der DDR kamen.

Dahn: Als junge Autorin habe ich sehr viel in Kirchen gelesen, es gab da keine Berührungsängste. Ich habe den moralischen Rigorismus, der von den Kirchenleuten kam, weitgehend übernommen.

Die zehn Gebote habe ich akzeptiert. Und doch gab es immer den Versuch, den religiösen Regeln atheistische, säkulare Gebote entgegenzusetzen. Das muss kein Widerspruch sein.

Herr Brumlik, hat die in Ihren Augen religiöse Kulturlosigkeit der Ostdeutschen ein Demokratiedefizit zur Folge?

Brumlik: Die Ostdeutschen hatten noch viel weniger Gelegenheit, westliche parlamentarische Demokratie zu erleben, als die Westdeutschen. Betrachten wir nur mal die vergangenen hundert Jahre: Da gibt es so etwas wie Demokratie im Jahr 1919, das hält bis 1933. Es folgen zwölf Jahre Nazidiktatur, und im Osten schließlich 40 Jahre SED-Diktatur. Dann kann man schon fragen: Wo soll Demokratieverständnis denn herkommen?

Im Westen sind ehemalige Nazis Richter und Hochschullehrer geworden.

Brumlik: Gewiss, wir hatten immer wieder solche Fälle, auch in großen Parteien, vor allem bei CDU und CSU gab es nicht wenige frühere Nationalsozialisten. Aber es gab immer so etwas wie eine Öffentlichkeit, die das angeprangert und dagegen gekämpft hat.

Sind die Ostdeutschen eigent-lich zu doof für Demokratie, Frau Dahn?

Dahn: Sie glauben nicht ernsthaft, dass ich Ja sage? In der Wendezeit haben wir erlebt, wie sich viele Menschen für mehr Demokratie engagiert haben. Sie wollten sich stärker einbringen, das Geschehen direkt beeinflussen. Es gab die allseits bekannten Montagsdemos, überall Runde Tische, von unten wurde nach oben weitergegeben, was man sich wünschte. Und das alles ohne Gewalt. Da waren hunderttausende Leute in einer politisch reifen Weise aktiv. Darüber staunten wir selber. Bald kam es aber zur Desillusionierung: Die Hoffnung, sich weiterhin einbringen zu können, schwand. Die Gewalt ging nicht mehr vom Volke aus. Das führte letztlich zu einem Nationalismus der Deklassierten, das zeigen die Wahlerfolge der AfD. Dazu kommt eine wachsende soziale Ungerechtigkeit.

Brumlik: Da kann ich nur sagen: Diese Leute haben das Wesen der parlamentarischen Demokratie nicht verstanden. Etwas Besseres haben wir nicht. Um mit Brecht zu sprechen: Das sind die „Mühen der Ebene“. Und: Jeder Mann und jede Frau kann in politische Parteien eintreten, in Ortsräte gehen, in Kommunalparlamente.

Dahn: In den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung habe ich mich als Verfassungspatriotin bezeichnet. Damals fand ich, dass unser Problem eher zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit lag. Bis ich merkte, dass das Hauptversprechen des Grundgesetzes schlicht nicht erfüllt wird.

Brumlik: Nämlich?

Dahn: Alle Gewalt geht vom Volke aus.

Brumlik: Im Rahmen der repräsentativen Demokratie – mehr heißt das nicht. Mehr soll das auch gar nicht bedeuten.

Dahn: Dann antworte ich ebenfalls mit Brecht: Es wird immer nur so viel Vernunft produziert, wie zur Aufrechterhaltung bestehender Zustände nötig ist. Das hat etwas sehr Affirmatives. Das Parlament macht nicht das, was die Wähler ihm aufgetragen haben. Zum Beispiel sind 80 Prozent der Menschen gegen Kriegseinsätze. Das Parlament beschließt sie trotzdem. Ebenso das Umwandeln von Wohnungen und öffentlichen Gütern in Privateigentum.

Brumlik: Den Kapitalismus werden wir nicht abschaffen.

Dahn: Wir sind weit gekommen, ja, wir sind ein reiches Land. Aber wir sind auch weit darin gekommen, die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer werden zu lassen. Vor allem international. Und wenn Sie sagen, dass die Frust- und Wutbürger die Demokratie nicht verstanden haben, dann ist das arrogant. Vielleicht haben die Wutbürger die Demokratie nur zu gut verstanden?

Brumlik: Sämtliche Alternativen zum Kapitalismus haben sich als schlimmer erwiesen.

Dahn: Das muss ja nicht so bleiben. Warum haben denn die großen Volksparteien so viel Vertrauen verloren? Entweder es gelingt, die Leute wieder einzubinden und sozialen Ausgleich zu schaffen. Oder wir erleben einen weiteren Rechtsruck. Ich glaube, dass es im Osten stärkere, durch die Erfahrungen der Wende bedingte Verlustängste gibt. Und das Gefühl: Wir sind immer noch Bürger zweiter Klasse.

Brumlik: Das ist doch ein Generationenphänomen. Stimmen Sie mir zu, dass eine Generation gebildeter junger Menschen aus Ostdeutschland diese Aberkennung nicht mehr so stark wahrnimmt?

Dahn: Für sich selbst vielleicht, nicht aber für die Geschichtsschreibung. Eine aktuelle Umfrage zeigt, dass 70 Prozent der ostdeutschen Schüler sagen, dass die DDR kein Unrechtsstaat war. Im Westen sagen das nur 20 Prozent der Gleichaltrigen.

Ist Identität – oder Mentalität – sozial vererbbar?

Dahn: Prägungen aus dem Elternhaus werden übergeben. In Ostdeutschland beispielsweise das eher osteuropäische Feiern, das Datschenwesen, ein gewisser Zusammenhalt in den Betrieben. Gleichzeitig beobachte ich eine Angleichung unter jungen Leuten: Sie hören dieselbe Musik, sie leben in WGs, sie reisen gemeinsam. Da macht es keinen Unterschied mehr, woher jemand kommt.

Brumlik: Das gab es alles bei uns auch. Ich sehe da keine Differenz.

Ist der Unterschied möglicherweise der, dass die DDR einem immer sagte: Wir wollen dich, wir brauchen dich, du bist uns etwas schuldig. Im Westen hat der Staat einen weitgehend in Ruhe gelassen, jede und jeder machte sein individuelles Ding.

Dahn: Jede Gesellschaft hat ihr Disziplinierungsmodell. In der DDR war das die Ideologie. Und im Westen ist das der finanzkonforme Arbeitsmarkt. Ich glaube, dass die verhaltensprägende Kraft des Kapitalismus ungeheuerlich ist.

Wie meinen Sie das?

Dahn: In der DDR konnte niemand entlassen werden, außer man wurde straffällig. Also sah man in den Kollegen nicht so stark Konkurrenten. Das wirkte bis ins Privatleben. Noch heute haben Ostdeutsche einen größeren Freundeskreis als Westdeutsche. Vielleicht ist das Zufall, vielleicht nicht.

Dem widerspricht eine Studie des Zentrums für Sozialforschung in Halle von 2014. Danach empfindet eine ostdeutsche Mehrheit die Wiedervereinigung als Vorteil für den Osten. 70 Prozent der Ostdeutschen sagen sogar, dass heute die Chancen für den persönlichen Aufstieg größer sind.

Dahn: Das ist doch sehr schön. Aber kein Widerspruch. Ich erinnere mich an einen Kollegen, der nach der Wende sagte, die Ostdeutschen müssten jetzt durch den Windkanal.

Was meinte er damit?

Dahn: Marktförmig werden. In der DDR haben sich Ostdeutsche in politischen Anpassungstaktiken geübt, heute müssen sie sich marktpolitisch anpassen.

Was ist schlimmer?

Dahn: Eine Leitungsposition in der DDR war schon deshalb nicht in jedem Fall erstrebenswert, weil der Unterschied in den Gehältern zwischen Chef und Untergebenen nicht so hoch war wie heute. Und je höher man stieg, umso weniger Spielraum hatte man politisch.

Karriere war im Osten nicht attraktiv?

Dahn: Nicht so attraktiv wie heute. Heute trifft das nicht mehr zu,heute haben sich die Ostdeutschen diesbezüglich vermutlich auf westliche Denkmuster eingestellt.

Der Theologe, SPD- und Linksparteipolitiker Edelbert Richter hat mal gesagt, der Osten wurde nach dem Mauerfall verwestlicht, weil die Menschen die Marktwirtschaft lernen mussten. Und jetzt würde der Westen verostlicht, weil die Menschen in unsicheren Zeichen nach dem starken Staat rufen. Richtig?

Brumlik: Ich finde nicht. Der westdeutsche Sozialstaat hat bis in die 1980er Jahre hinein sehr gut funktioniert, die sogenannte soziale Marktwirtschaft mit Kündigungsschutz und Rente und so weiter. Ist das verostlicht? Nein.

Dahn: Vielleicht hat es so gut funktioniert, weil es die Systemkonkurrenz gab.

Brumlik: Einiges spricht dafür.

Mit Kanzlerin Angela Merkel und dem früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck hatte die Bundesrepublik zwei Ostdeutsche an der Spitze. Warum erfahren gerade die beiden so viel Hass und Ablehnung?

Dahn: Bei Gauck erklärt sich das sicher aus seiner Biografie. Er war nicht der Bürgerrechtler, als der er sich ausgegeben hat. Als jahrelanger Chef der Stasi-Unterlagenbehörde hat er mit dazu beigetragen, dass sich die Sicht auf die DDR verengte: die DDR vor allem als Stasi-Staat. Die Behörde hat nach Analyse der Akten herausgefunden, dass nur zwei Prozent der DDR-Leute für die Stasi gearbeitet haben. 98 Prozent hatten also nichts mit ihr zu tun. Und trotzdem war das Vertrauen der Mehrheit in diese Behörde äußerst gering. Weil die meisten Menschen wussten, dass Biografien instrumentalisiert werden konnten. Als Bundespräsident hat Joachim Gauck den Mächtigen keine unbequemen Fragen gestellt.

Und Merkel?

Dahn: Merkel wurde nicht so stark gehasst – bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie die Flüchtenden ins Land gelassen hat. Unabhängig davon hat sie sich nicht wirklich mit ostdeutschen Interessen profiliert. Sie ist eine gesamtdeutsche Kanzlerin.

Brumlik: Das ist ihre Aufgabe.

Dahn: Ja, natürlich. Sie hätte trotzdem dann und wann offener sein können für den Frust der Leute.

Wann wird Ost-West-Herkunft keine Rolle mehr spielen?

Brumlik: In der vierten Generation, bei jenen Menschen, die in den vergangenen zwei, drei Jahren geboren worden sind. Schätzungsweise also 2030 bis 2035.

Dahn: Sie wird dann keine Rolle mehr spielen, wenn die Lebensverhältnisse in Ost und West tatsächlich angeglichen sind. Das könnte noch mehrere Generationen dauern. Noch heute kann sich Ostdeutschland wirtschaftlich nicht selbstständig tragen, es ist nach wie vor in hohem Maße subventionsbedürftig. Auch wenn drei Viertel der Ostdeutschen mit ihrer persönlichen materiellen Situation zufrieden sind, muss man wissen, dass das ein vom Westen alimentierter Wohlstand ist. Vielleicht wird das auch zum Dauerzustand.

Können Sie sich vorstellen, dass es 2040, wenn Ost-West-Identität vielleicht keine Rolle mehr spielt, eine Identität gibt, die Europa heißt?

Brumlik: Das kann ich nicht. Aber was ich heute feststelle, ist, dass wir ein Land sind, in dem bereits ein Viertel der Bevölkerung Migrationshintergrund hat. Diese Entwicklung wird uns sehr viel stärker beeinflussen, als wir uns das heute vorstellen können.

Dahn: Ich fühle mich als Europäerin.

Wir haben einen starken Zustrom von Menschen mit Migrationshintergrund und damit einer anderen Identität. Werden wir irgendwann ein Europa mit vielen verschiedenen Identitäten haben? Was wiederum ebenfalls identitätsstiftend ist?

Dahn: Vielfalt als Identität, ja. Wenn man sie als Bereicherung erfährt. Ich glaube, dass die Schwäche des heutigen Europas seinen Konstruktionsfehler offenbart. Es gab eine Währungsunion, aber keine Sozialunion. Die Währungsunion hat die Abhängigkeit der schwächeren Länder vertieft, weil sie ihnen die finanzielle Souveränität genommen hat. Deshalb stoßen heute nationale Interessen aufeinander. Um das zu ändern und um eine gemeinsame Mentalität aufzubauen, müsste grundsätzlich die Struktur geändert werden.

Was meinen Sie konkret?

Dahn: Es ist eine Schande für Europa, dass für die Bankenrettung zwanzig Mal mehr Geld ausgegeben wurde als für Flüchtlingsintegration.

Brumlik: Da stimme ich Ihnen zu. Und, um mit einem bösen Zitat des Historikers Hans-Ulrich Wehler zu enden – er sagte: „In einigen Jahren wird die DDR nur eine Fußnote der deutschen Geschichte gewesen sein.“ Aber manchmal steht in den Fußnoten ja das Interessanteste drin.

Das Gespräch führten Simone Schmollack, 1964 geboren in Ostberlin, und Thomas Winkler, 1965 geboren in Nürnberg

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