Bange machen gilt nicht

Europäische Union Die EU-Integration war ja schön und gut, aber jetzt brauchen wir wieder stärkere Nationalstaaten - diese Meinung hört man immer öfter. Doch das wäre ein fataler Irrweg

„Was haben die Römer je als Gegenleistung erbracht?“, fragt der Anführer einer antirömischen Rebellengruppe seine Anhänger in einem dunklen Keller. „Den Aquädukt“, sagt einer. „Die sanitären Einrichtungen“ ein anderer. „Die Straßen“, fällt einem Dritten ein. Nach einigen weiteren Bemerkungen beharrt der Anführer: „Aber abgesehen von sanitären Einrichtungen, Medizin, dem Schulwesen, Wein, der öffentlichen Ordnung, Bewässerung, Straßen, der Wasseraufbereitung und der allgemeinen Krankenkassen, was, frage ich euch, haben die Römer je für uns getan?“ „Den Frieden gebracht“, ruft ein Letzter aus.

Diese Szene aus Monty Pythons Klassiker Das Leben des Brian veranschaulicht die Haltung, die mehr und mehr Menschen gegenüber der Europäischen Union einnehmen. Ihrer Meinung nach hat die europäische Integration in der Vergangenheit zwar gut funktioniert - inzwischen jedoch zu viele Probleme geschaffen, um weiter vertieft zu werden. Stattdessen, so ihr Argument, sollten die Mitgliedsstaaten nationale Souveränität zurückerobern und so weit wie möglich die Ketten europäischer Verstrickungen abstreifen. So verständlich einige dieser Reflexe auf den ersten Blick erscheinen, sind sie außergewöhnlich engstirnig und, besonders für unsere jüngere Generation, kolossal aus der Zeit gefallen. Wir, die globalisierte Generation, können angesichts der gegenwärtigen Mutlosigkeit nur fassungslos den Kopf schütteln. Wir brauchen mehr Integration, nicht weniger.

Das gemeinsame europäische Gedächtnis

Wie der französische Soziologe Maurice Halbwachs gezeigt hat, besitzen soziale Gruppen ein kollektives Gedächtnis, das sowohl auf ihren gemeinsamen materiellen als auch immateriellen Eigenschaften basiert. Es ist daher ein Irrtum zu glauben, dass die EU nur eine Reihe von materiellen Leistungen zur Verfügung stellt, die einfach zurückgenommen werden könnte. Der europäische Integrationsprozess selbst fand zusammen mit der Bildung eines kollektiven europäischen Gedächtnisses statt; nationale Grenzen überschreitend und leise im Verstand jedes Einzelnen präsent. Junge Europäer wissen das. Auf der Basis dieses kollektiven Gedächtnisses und durch ihre eigenen Erfahrungen haben sie längst eine gemeinsame europäische Identität entwickelt.

Sie waren Teenager als am 11. September in New York die Twin Towers zusammenbrachen. Der Kampf gegen den Terrorismus schien das Paradigma unserer Zeit zu werden, während er zugleich zur natürlichen und unhinterfragten Bedingung für Frieden erhoben wurde. Das war bevor ökonomischer Exzess und der Kollaps der Investmentbank Lehman Brothers den Boden für den globalen wirtschaftlichen Abschwung bereiteten und zur tiefen Krise des europäischen Projekts führten.

Gleichzeitig ist keine Generation vor uns durch die Vernetzung der heutigen Welt geprägt worden. Die jungen europäischen Erwachsenen von heute wuchsen mit Reisen durch ein Europa ohne Grenzkontrollen auf und viele hatten das Privileg, an Austauschprogrammen wie Erasmus teilnehmen zu können. Wir sind es gewohnt, Freundschaften mit Menschen aus einer Vielzahl von Ländern zu schließen und wir haben ganz sicher gelernt, die Welt durch die Augen anderer Völker zu betrachten. Wenn wir uns dazu entscheiden, können wir reisen, arbeiten und leben wo immer wir nur wollen. Für junge Menschen ist Europa ein friedlicher, grenzenloser und multikultureller Kontinent, der die tatsächlichen und die symbolischen Grenzen des Nationalstaats überwindet.

Während junge Europäer mit der Globalisierung von Konflikten und Krisen aufwuchsen, wurden sie ebenso Kronzeugen der Verschmelzung verschiedener Kulturen durch die Globalisierung und der natürlichen Internationalisierung von Lebensgeschichten, Freundschaften und Beziehungen. Das 21. Jahrhundert füllte das kollektive Gedächtnis unserer Generation mit furchterregenden Bildern, aber es brachte uns auch die konkreten Erfahrungen und den symbolischen Rahmen, der es uns unmöglich macht, an etwas anderes als an den Weg von Vernetzung und Zusammenarbeit zu glauben. Die EU hat diese Entwicklung begründet, inzwischen aber nicht mehr mit ihr Schritt halten können.

Nehmt die jungen Europäer ernst

Der frühere deutsche Außenminister Joschka Fischer befand kürzlich in einem Spiegel-Interview, dass „die jetzige Generation keinen emotionalen Bezug zu Europa mehr hat“. Es bleibt abzuwarten, ob dies auf diejenigen zutrifft, die gegenwärtig an der Macht sind. Es trifft gewiss nicht auf junge Leute zu, denn die Vorteile der EU sind für niemanden offensichtlicher als für diese Generation europäischer Bürger. Uns ist auch sehr bewusst, dass ihre Existenz nicht selbstverständlich und ihr Fortbestand nicht garantiert ist. In der heutigen Krise sind wir nicht nur mit der Gefahr konfrontiert, die materiellen Vorteile zu verlieren, die die EU verkörpert, sondern wir sind auch dem Risiko ausgesetzt, einen Teil unseres kollektiven Gedächtnisses zu verlieren und unsere gemeinsame europäische Identität zu verspielen.

Viele gut ausgebildete junge Europäer sind arbeitslos oder müssen schlecht – wenn überhaupt – bezahlte Praktika machen und werden somit zu einer einfachen wirtschaftlichen Variablen innerhalb der Marktregeln. Während die Renten ihrer Großeltern sicher waren, sehen sie ihre Eltern nachrechnen, ob sie zum Leben ausreichen werden, wenn der Ruhestand endlich gekommen sein wird. Die unverantwortliche Ansammlung von Staatsschulden hat eine schwere Last auf die junge Generation gelegt, die unseren Handlungsspielraum auf Jahrzehnte einengen wird und die Aufrechterhaltung unseres Lebensstandards bedroht.

Ob an den Menschen, die in Mülleimern nach Flaschen suchen oder an einer abgehobenen Finanzelite, die sich weniger um das öffentliche Wohl als um ihre eigenen Taschen zu scheren scheint – jedermann kann soziale Unterschiede weitaus deutlicher sehen als noch vor zehn Jahren. Eine solche Situation birgt die Versuchung, negativ neu zu bewerten, was Europa für uns zu leisten in der Lage ist. Stattdessen aber müssen wir unsere gemeinsame Identität in die europäische Politik und die europäischen Institutionen hinein tragen.

Eine zukunftsfähige EU

Da der Großteil unserer Probleme auf internationaler Ebene auftritt, ist es dringend notwendig auch eine politische Union Europas zu schaffen, die in der Lage ist, den Herausforderungen unseres Kontinents und wirkungsvoll zu begegnen. Dazu gehört die dauerhafte Koordinierung europäischer Finanz- und Wirtschaftspolitik, um die gegenwärtige Krise zu bewältigen und künftige Gefahren abwehren zu können. Finanzmarktregulierung auf nationaler Basis ist in einer eng verflochtenen globalen Wirtschaft nutzlos. Auch soziale Verwerfungen müssen auf europäischer Ebene angegangen werden, da sie in Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise grenzübergreifend zu Tage treten und politische Folgen für die gesamte EU hervorrufen können. Wenn wir bleibende soziale Sicherung für alle Europäer wollen, müssen wir also die ökonomische Integration Europas um eine soziale Integration ergänzen.

Vertiefte Integration muss in den politischen Entscheidungsprozessen der EU stärker demokratisch legitimiert und effizienter gestaltet werden. An erster Stelle steht die die massive Stärkung des Europäischen Parlaments gegenüber Kommission und Europäischem Rat. Die direkte Wahl des Kommissionspräsidenten aus den Reihen der europäischen Bürger heraus ist dazu ebenfalls denkbar. Um die EU aus der seit Jahren bestehenden Entscheidungsstarre, muss ihre Entschlusskraft im Rat durch die Ausweitung des qualifizierten Mehrheitsprinzips auf alle Bereiche gefördert werden. Nicht zuletzt um sich in der multipolaren und von international auftretenden Problemen geprägten Welt des 21. Jahrhunderts zu behaupten, muss das mittelfristige Ziel eine stärker integrierte, demokratisch legitimierte und somit zukunftsfähige EU sein.

Wenn wir es nicht schaffen sollten, all diese Herausforderungen zu bewältigen, wird die junge europäische Generation am Stärksten von den Folgen betroffen sein. Anstatt uns von der europäischen Idee zu entfernen, sollten wir ernsthaft für das europäische Projekt kämpfen. Die heute führenden Politiker müssen endlich unsere Interessen ernst nehmen. Der Weg aus dieser Krise hinaus muss zu vertiefter Integration und institutionellen Reformen führen, die unsere gemeinsame europäische Identität in die europäischen Institutionen und die Politik der Europäischen Union übertragen.

Was Europa je für uns getan hat? Es hat uns unser gesamtes Wohlergehen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ermöglicht und erlaubte uns auf der Basis humanistischer Werte eine gemeinsame Identität zu schaffen. Da sich die Zeiten seitdem geändert haben, ist es heute unsere Verantwortung dafür zu sorgen, dass dieses Europa stärker als zuvor bestehen bleibt.

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