150 Prozesstage stehen dem jugoslawischen Ex-Präsidenten Slobodan Milosevic ab 5. Juli zur Verfügung, um sich vor dem Haager UN-Tribunal zu verteidigen. Die Anklage hatte am 25. Februar - zwei Jahre nach Beginn des Verfahrens - ihre Beweisführung beendet. Milosevic, der des Völkermords, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und der Verletzung des Kriegsrechts angeklagt ist, hat unter anderem frühere Gesprächspartner als Zeugen benannt.
Als Ende Februar der Richter Richard May aus Gesundheitsgründen seinen Rücktritt ankündigte, löste dies einen nicht geringen Schock im Umfeld des Haager Tribunals aus. Carla del Ponte, die Chefanklägerin im "Prozess des Jahrhunderts", erklärte kurzerhand ihre Beweisführung gegen Jugoslawiens Ex-Präsidenten Slobodan Milosevic für beendet und verzichtete auf den Rest ihrer 300 Zeugen, während in juristischen Fachkreisen das große Rätselraten begann, wie es denn nun weiter gehen sollte. Als Vorsitzender Richter des inzwischen mehr als zwei Jahre dauernden Verfahren gegen Milosevic schien Richard May schier unersetzlich. Nach nahezu 300 Verhandlungstagen - so hieß es - müsste ein Nachfolger zuerst 35.000 Seiten Gerichtsprotokolle und über 600.000 Seiten an Dokumenten und Beweisstücken studieren, bevor er auf der Höhe des Prozesses sei. Optimisten meinten, um diesen Aktenberg zu bewältigen, brauche man mindestens ein Jahr. Anschließend müsse, so Kenner der Verfahrensnormen des Tribunals, der neue Richter eine Erklärung abgeben, dass er mit dem bisherigen Verlauf des Verfahrens völlig vertraut sei.
Die "Freunde des Gerichts"
Die Dynamik, mit der dieser einzigartige Gerichtshof sich selber die Regeln diktiert, um sie dann - den Bedürfnissen entsprechend - flott zu revidieren, führte nicht dazu, derartige Prophezeiungen in den Rang einer seriösen Prognose zu erheben. So wurde am 12. April der schottische Richter Lord Iain Bonomy als Nachfolger von Richard May ernannt. Schon am 7. Juni, also recht zügig, legte Bonomy den Richtereid ab, um am 16. Juni über ein Dokument mit zu entscheiden, dessen Beurteilung eine profunde Kenntnis des bisherigen Prozessverlaufes voraussetzte. Es ging um den Antrag der drei "amici curiae" - der "Freunde des Gerichts" - die wichtigsten Anklagepunkte gegen Milosevic fallen zu lassen, da sie von den Zeugen der Anklage nicht ausreichend bewiesen worden seien. In ihrem bemerkenswerten Antrag vom 3. März 2004 hatten Steven Kay, Branislav Tapuskovic und Timothy McCormack - sie sind alles andere als Freunde des Angeklagten - auf 95 Seiten nicht nur dargelegt, warum sie die Anklage wegen Völkermordes in Bosnien und der Deportationen im Kosovo für unbewiesen erachteten. Sie sprachen dem Tribunal auch die Kompetenz ab, über die Geschehnisse in Kroatien vor dessen völkerrechtlicher Anerkennung 1991 und im Kosovo vor den NATO-Luftschlägen im Frühjahr 1999 Gericht zu halten, da es sich um Bürgerkriege handele, die nicht Gegenstand der Genfer Konventionen seien. Auch im Hinblick auf den Bosnienkrieg gebe es keine definitiven Erkenntnis darüber, ob dies ein Bürgerkrieg oder eine serbisch-jugoslawische Aggression gewesen sei. Schließlich führten die amici eine Reihe von Zeugen an, deren Aussagen nicht überzeugend oder zu widersprüchlich gewesen seien und daher nicht als Beweis berücksichtigt werden könnten. Alles in allem ein für die Anklage eher unerfreuliches Statement dreier renommierter Juristen, die vom ersten Tag an den Prozess beobachtet hatten.
Am 16. Juni verwarfen die drei Richter durch Mehrheitsbeschluss erwartungsgemäß den Antrag der drei amici, um in ihrer "Decision On Motion For Judgement Of Acquittal" Punkt für Punkt die Leistung der Ankläger zu würdigen: sie hätten ausreichende Beweise geliefert, so dass alle wichtigen Anklagepunkte aufrechterhalten werden könnten. Lediglich beim Vorwurf des Völkermordes in Bosnien brachte Richter O-Gon Kwon Vorbehalte zu Papier und teilte mit, die "genozidale Intention" des Angeklagten sei nicht hinreichend bewiesen worden. Aber mit den Stimmen des neuen Vorsitzenden Richters Patrick Robinson und des gerade vereidigten Richters Bonomy wurde diese Votum überstimmt.
Aufschlussreich war, dass sich die Richter ausführlich zu einer Frage äußerten, die von den amici gar nicht berührt worden war, obgleich es sich dabei sozusagen um den Kern aller Anklagepunkte handelt. "Bar jeden Zweifels", hieß es, sei auch bewiesen worden, dass der Angeklagte in seinen großserbischen Ambitionen am "genozidalen Plan" eines joint criminal enterprise ("verbrecherischen Unternehmens") zur Vernichtung der bosnischen Muslime beteiligt war. Der Beweis, den die Richter anführen, ergibt sich aus einem nur schwer nachvollziehbaren Argumentationsnetz von Aussagen diverser Zeugen und vorliegender Geständnissen, abgelegt in anderen Prozessen. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass die Beweise eher fragwürdig sind. Das ganze Konzept eines joint criminal enterprise zur Schaffung von Großserbien, das die Anklage präsentiert und die Richter gewürdigt haben, hört sich wie ein Musterbeispiel für Verschwörungstheorien an, die bekanntlich den Vorteil haben, auch das Widersprüchlichste zur eigenen Bestätigung umzumünzen.
Die Anklage war beispielsweise im bisherigen Prozessverlauf nicht imstande, auch nur einen einzigen nationalistischen Satz des Angeklagten als Beweis für seine großserbischen Wertvorstellungen anzuführen. Mehrere wichtige Zeugen, etwa der Brite David Owen, haben Milosevic als einen Jugo-Kommunisten sui generis charakterisiert, dem nationalistische Denkbilder emotional wie ideologisch fremd seien und der "eher pragmatisch" handele. Derartige Erklärungen haben die Richter entweder nicht wahrgenommen oder in ihrer Bedeutung relativiert, denn ohne Milosevic als großserbischen Protagonisten geriete freilich die gesamte Anklage ins Wanken.
Das Mikrofon ausgeschaltet
Richter und Ankläger führen in Den Haag einen politischen Prozess, den sie der Öffentlichkeit mit Vorliebe als "normales strafrechtliches Verfahren" präsentieren, doch lässt sich dessen Charakter nicht zuletzt an den nicht zugelassenen Fragen ablesen. Sobald Milosevic bisher auch nur versucht hat, die Rolle mancher NATO-Länder im Jugoslawien-Konflikt zu erwähnen, wurde ihm geradezu reflexartig das Mikrophon ausgeschaltet - offenbar um zum Ausdruck zu bringen, in unserem rechtsstaatlichen System sind politische Prozesse illegitim. Nur, auch Angriffskriege sind illegitim, und der Westen führt sie trotzdem. Dass inzwischen auch politische Prozesse als zulässig gelten, wird ungern eingestanden. Folglich fand das Tribunal mit dem Anklagepunkt joint criminal enterprise eine elegante Lösung. Diesem Vorwurf vom "verbrecherischen Unternehmen" ist strafrechtlich nicht beizukommen, weil es sich nicht um ein konkretes Verbrechen handelt, für das konkrete Beweise erbracht werden müssen. Mit diesem Instrument in der Hand kann ein Gerichtshof gelassen auf den Vorwurf reagieren, er würde einen politischen Prozess führen, den es nach rechtsstaatlichen Kriterien gar nicht geben dürfte.
Germinal Civikov berichtet als Korrespondent der bulgarischen Redaktion der Deutschen Welle über den Milosevic-Prozess. Er ist Co-Autor der dreiteiligen Dokumentarfilms der niederländischen Fernsehkanals VPRO De Zaak Milosevic.
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