Barrios gegen Chávez?

Schauplatz Venezuela Die venezolanische Lehrerin Carmen Rodrígez in einem Telefoninterview über das Viertel »El Amparo« in Caracas

FREITAG: Wie stellt sich für Sie die Lage augenblicklich dar? CARMEN RODRIGEZ: Die Leute schlagen sich gerade so durch, obwohl es an Gas, Maismehl, Milch und Benzin mangelt und die Sender der Putschisten Tag und Nacht zum Bürgerkrieg trommeln. Die Opposition will aber jetzt wenigstens dafür sorgen, dass die Schulen wieder öffnen. Doch generell soll die Lage so zugespitzt bleiben, dass sich irgendwann die arbeitende Bevölkerung gegen Chávez auflehnt.

Wird sie das tun? Die Gefahr, dass eine soziale Explosion provoziert wird, liegt in der Luft. Die Chávez-Gegner wollen, dass die Leute in den ärmsten Vierteln den Präsidenten stürzen, denn die Reichen müssen ja nicht Schlange stehen und versuchen, irgendwo eine Gasflasche zum Kochen aufzutreiben. Sie bekommen ihr Gas aus der Leitung und habe alle Möglichkeiten, sich zu versorgen. Sie wollen die Barrios zur Verzweiflung treiben, damit die der Regierung die Schuld geben. Einige in der Opposition haben offenbar den Verstand verloren und wollen Krieg, Blut und Tote. Man braucht nur zu hören, wie sie untereinander reden.

Lässt sich beobachten, dass die Unterstützung für Hugo Chávez bröckelt? Es gibt nach wie vor sehr viele Leute, die ganz bewusst die Regierungspolitik verteidigen. Schließlich können nur wir verhindern, dass die Opposition weiter die Kontrolle ausübt. Im Gemeinderat meines Barrios gibt es keine Ruhe mehr. Ständig sind dort Leute in allen möglichen Meetings. Sie setzen sich dafür ein, dass die Ärzte die Arbeit wieder aufnehmen. Der Bürgermeister von Caracas hatte ja angeordnet hat, dass öffentliche Hospitäler auch streiken. Wenn es sein muss, werden wir woanders Ärzte holen oder von der Regierung fordern, dass sie den Sozialhilfeplan der Armee außerhalb der Krankenhäuser reaktiviert. Wir müssen genauso kämpfen wie vor dem Antritt von Präsident Chávez. Davon hört man aber nichts, denn in den Nachrichten geht es nur um die beiden Konfliktparteien Opposition und Regierung.

Wie lange wird die Bevölkerung diesen Druck aushalten? Das hängt davon ab, wie die Kräfte kanalisiert werden. Ich kann aber sagen, man wird den Leuten nicht mehr so leicht, wirklichkeitsferne Slogans einhämmern können. Wenn der Gewerkschaftsführer Ortega geglaubt hatte, dass er nach dem Ölputsch vom Dezember die politische Kontrolle übernehmen würde, war das ein Irrtum. Wie der Präsident der Erdölgesellschaft PDVSA und die Regierung die Lage gemanagt haben, das hat der Bevölkerung Vertrauen gegeben. Sie hätten nur das Gesicht von Ortega sehen sollen, als der bestreikte Tanker »Pili León« plötzlich losfuhr. Der Typ hätte beinahe einen Herzinfarkt bekommen. Mit dem Öl haben sie es nicht geschafft, und jetzt läuft ihnen die Zeit davon.

Dennoch, Venezuela driftet immer mehr in Richtung Anarchie. Ja, weil es doch eigentlich nicht angehen kann, dass ein Gericht anordnet, die Erdölarbeiten wieder aufzunehmen, keiner darauf hört und das ohne Folgen bleibt. Es gibt Tote, Grundrechte werden verletzt, und der Staatsanwalt äußert sich nicht. Die Straflosigkeit war eines der Übel der V. Republik (Staatsordnung vor der Chávez-Verfassung - die Red.). Als kürzlich der Vizepräsident auf einer Kundgebung erschien, riefen die Leute gleich im Chor »Gerechtigkeit, Gerechtigkeit! Schluss mit der Straflosigkeit!« Die Regierung muss sich das zu eigen machen. Dazu hat sie ja die Unterstützung von uns, den Armen und den Militärs. Das organisierte Volk ist tolerant. Wir werden nicht zulassen, dass man uns ausnutzt, aber auch nicht, dass Taten ungestraft bleiben. Wir werden uns weiter durchschlagen, aber diejenigen, die unser Land zerstören wollen, lassen wir nicht zum Zug kommen - es sei denn, sie massakrieren ein ganzes Volk!

Das Gespräch führten Xiomara und Thomas Gohlke.

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