»Die Lage ist sehr schwierig. Ich denke, wir können Dagestan verlieren.« Mit diesen Worten verabschiedete sich Premier Sergej Stepaschin von seinem Kabinett, wohl wissend, daß Rußland vor einem neuen Kaukasuskrieg mit ungewissem Ausgang stehen könnte. Die Gefechte der Armee mit der islamistischen Guerilla haben in Moskau schlagartig die Gefahr weiteren territorialen Zerfalls zu Bewußtsein gebracht, denn der Kreml hat für die gesamte Region kein politisches Konzept.
Dagestan wurde jahrzehntelang vernachlässigt und ist wie viele andere Republiken von Zuwendungen aus dem föderalen Budget abhängig. Nach Auffassung von Rußlands Nationalitäten-Minister Wjatscheslaw Michailow sollte man künftig die nationalen Konflikte nicht länger mit Geldspritzen zu entschärfen suchen. Dem Nordkaukasus bleibe ohnehin nichts anderes übrig, als mit Moskau zu kooperieren. Ob sich diese schlichte Logik im Falle Dagestans bewahrheitet, ist fraglich. Der Vorsitzenden des dagestanischen Staatsrates, Magomadeli Magomedow, bekundet zwar weiter seine Loyalität gegenüber Moskau, solange aber die Kampfhandlungen andauern, könnte das die alteingesessenen lokalen Eliten ins Wanken bringen. Schon vor drei Jahren hatten die Bewohner der südlichen Sowchosen Karamachi und Tschabanmachi ihre »Unabhängigkeit« erklärt. Örtliche Wahhabiten (*) riefen dort die islamische Ordnung aus, und der dagestanischen Miliz wurde fortan der Zugang zu diesen Bergdörfern verwehrt. Im Mai 1998 stürmten aufgebrachte Demonstranten um den neureichen Laken - den einstigen Sportler Magomed Chatschilajew - das Gebäude des dagestanischen Staatsrates in der Hauptstadt Machatschkala. Wohl wurde die Revolte niedergeschlagen, und Chatschilajew kam hinter Gitter, doch ließ die nächste Hiobsbotschaft nicht lange auf sich warten, das Auto von Dagestans Mufti, Saidmuchamed-Chadschi Abubakarow, der als Feind der Wahhabiten galt, wurde bei einem Bombenattentat in die Luft gesprengt. Der Mufti, sein Bruder und der Fahrer fanden den Tod.
Die russische Armee sieht sich nach eigenen Angaben mehr als 1.500 islamischen Fundamentalisten aus Tschetschenien, Dagestan, Saudi-Arabien und Mittelasien gegenüber, die unter dem Befehl von Schamil Basajew und des Feldkommandeurs Chatab stehen, ein Jordanier kaukasischer Herkunft, den es während des Tschetschenien-Krieges (1994 - 1996) nach Grosny verschlagen hatte. Der fast schon legendäre Schamil Basajew befehligte am 14. Juni 1995 die Geiselnahme im Zentralhospital von Budjonnowsk (**), mit der nach Meinung tschetschenischer Extremisten die Wende im Krieg mit Rußland eingeleitet worden sei. Heute ist Basajew Vorsitzender der tschetschenischen Schura, eines religiösen Rats, der in Opposition zu Präsident Maschadow steht.
Radikale Feldkommandeure vom Schlage Basajew sehen sich in der Tradition des dagestanischen Imams, Awar Schamyl, dem es im 19. Jahrhundert gelang, die tschetschenischen und dagestanischen Bergvölker im Widerstand gegen die russische Armee zu vereinen. Schamil führte zwei Jahrzehnte lang ein militärisch-theokratisches Imamat. Am 26. August 1859 wurde er von russischen Truppen in der dagestanischen Ortschaft Gunib eingekesselt und gefangengenommen. Schamil lebte danach als ein mit vielen Privilegien ausgestatteter Verbannter in Rußland. Sein Porträt hängt heute in jeder dagestanischen Amtsstube. Eines der typischen Paradoxa im postsowjetischen Raum.
Das offizielle Grosny hat inzwischen mehrfach erklärt, es habe mit den Vorgängen in Dagestan nichts zu tun - die tschetschenische Opposition indes macht kein Hehl aus ihrer offenen Sympathie für die Freischärler. So läßt der stellvertretende Sprecher der Schura, Mowladi Udugow, im direkten Gespräch unumwunden durchblicken, die »Kaukasuspolitik« von Aslan Maschadow entspreche längst nicht mehr den realen Bedingungen. Bei den Verhandlungen mit Rußland vertrete der Präsident »eine zu weiche Position« und versuche, sich unter allen Umständen mit Boris Jelzin zu treffen, »weil er glaubt, damit würden irgendwelche Fragen entschieden.« Udugow war bis 1998 Außenminister Tschetscheniens. Er gilt heute als Ideologe der Opposition und ist davon überzeugt, solange Rußland seine Taktik der Erpressung gegenüber Grosny nicht aufgebe, seien Gespräche überflüssig. Tschetschenien sollte nur dann verhandeln, wenn es geeignete Machtmittel in der Hand halte. Udugow erinnert an den August 1996. Erst als tschetschenische Kämpfer Grosny erobert hätten, sei der Vertrag von Chasawjurt (***) unterzeichnet worden. Die nach wie vor zahlreichen Geiselnahmen durch Tschetschenen bleiben für ihn »ein Resultat des Krieges«. »Die russische Aggression hat das Land zerstört. 120.000 Menschen sind dabei umgekommen, die Wirtschaft liegt am Boden. Deshalb gibt es bei den Tschetschenen ein Gefühl der Rache und das Bedürfnis zu überleben. Sobald Rußland seine Versprechungen erfüllt, kann es in Ruhe leben. Das heißt, wenn Moskau Tschetschenien 260 Milliarden Dollar für die Kriegsschäden bezahlt, werden die Geiselnahmen aufhören. Anders geht es nicht.«
Derartige Äußerungen haben einen realen Hintergrund, steht doch die tschetschenische Gesellschaft noch immer im Zeichen des Krieges. Beispielsweise gibt es das Phänomen der 20jährigen Alten - junge Männer ohne Haare, die durch ihre Kriegserlebnisse schnell gealtert sind. Sie haben gegen Rußland gekämpft und können sich nicht mehr auf ein ziviles Leben einstellen.
Daß aber in Dagestan eine Entwicklung wie in Tschetschenien eintritt, ist nur schwer vorstellbar. Dort waren zu Kriegsbeginn im Dezember 1994 75 Prozent der Gesamtbevölkerung (1,1 Millionen) Angehörige der Titularnation. Die Republik lag damit an der Spitze aller autonomen Gebiete Rußlands. In Dagestan mit seinen 1,8 Millionen Einwohnern leben hingegen über 30 Völker in unterschiedlichen Siedlungsgebieten. Zu den Hauptnationalitäten gehören die Awaren, Darginer, Kumyken und Lesginer, während die Russen etwa neun Prozent der Bevölkerung stellen. Die dagestanische Gesellschaft strukturiert sich außerdem in Clans, die sich um nationale Führer und einflußreiche Geschäftsleute gruppieren. Daß all diese Gruppen die Islamisten unterstützen könnten, ist ausgeschlossen.
Für Moskau relativiert das die Dagestan-Krise allerdings keineswegs. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die betroffene Region von einer Pipeline durchquert wird, durch die Öl aus Aserbaidschan ans Schwarze Meer geleitet wird. Außerdem scheinen Angaben des russischen Geheimdienstes der Wahrheit zu entsprechen, wonach die Fundamentalisten aus Saudi-Arabien und anderen islamischen Ländern unterstützt werden. Allein diese Faktoren verleihen dem Konflikt geopolitische Ausmaße. Die russische Elite sieht das Vaterland bedroht. Sergej Stepaschins Warnung am Tage seiner Entlassung war ernst zu nehmen, sie wird im übrigen auch von Moskaus Bürgermeister Lushkow geteilt.
(*) Wahhabismus ist die Staatsreligion Saudi-Arabiens, eine Strömung des Islam mit besonders harter Auslegung der Scharia-Gesetze. Nach offiziellen russischen Angaben gibt es 4.000 Wahhabiten in Dagestan sowie einige Tausend in Tschetschenien, Inguschetien sowie in Zentralrußland.
(**) Ein bewaffnetes Kommando der tschetschenischen Guerilla nahm seinerzeit im südrussischen Budjonnowsk mehr als 1.000 Geiseln, um das Ende der russischen Offensive in Tschetschenien zu verlangen. Das Drama wurde durch Vermittlung des damaligen Premiers Tschernomyrdin beendet, doch gab es Dutzende von Toten.
(***) Von Jelzins damaligem Sicherheitsberater Alexander Lebed und Aslan Maschadow im September 1996 ausgehandelter Friedensvertrag.
(Jacques-Pierre Gougeon ist Historiker in Paris und Berater des französischen Europaministers)
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