Wird das Jahr 2004 als das Jahr in die Büchergeschichte eingehen, in dem sich der Untergang der Suhrkamp-Kultur ankündigte? Wer mit zeitlichem Abstand auf die Debatte um Martin Walsers Abgang bei dem Frankfurter Verlag zurückblickt, macht die beglückende Erfahrung, dass das Leben auch hier so weiter geht, wie es immer weiter geht, selbst nach dem schlimmsten Unfall. Das Haus in der Frankfurter Lindenstraße steht noch. Auch wenn einige ausgezogen sind. Suhrkamp bringt neue Bücher heraus. Sein Frühjahrsprogramm wirkt zwar etwas dröge. In den letzten Saisons hat sich dort mit allerlei komplettierten Werkausgaben ein Hang zur gediegenen Klassizität festgesetzt. Doch das große Bröckeln, der Autoren-Exodus, den manche befürchtet hatten,
en, nachdem es den Proust vom Bodensee an die Alster gezogen hat, scheint bislang ausgeblieben zu sein. Hoffnungsvolle Youngsters vom Starnberger See, Thomas Meinecke, Andreas Neumeister oder Albert Ostermaier etwa, verlegen immer noch am Main. Und als Ulla Berkewicz kürzlich in der Akademie der Künste zu Berlin Christoph Hein und seinen neuen Roman Landnahme mit den Worten vorstellte, dass mit seinem Werk "die innere Einheit Deutschlands erst vollzogen" sei, sprach sie, als habe sie schon Ersatz für Walser. Mit der Buchvorstellung durch Richard von Weizsäcker wurde Hein, dem skeptischen und zurückhaltenden Chronisten dürfte es wenig gefallen haben, durch einen Fast-Staatsakt in den Rang einer gesamtdeutschen Instanz erhoben. Ganz ohne Autoren steht Suhrkamp also nicht da. So weit so normal. Normalisierung scheint überhaupt das richtige Wort für den Vorgang zu sein, der die Republik erschütterte. Warum eigentlich? 50 Jahre sind zwar kein Pappenstiel. Martin Walser hat bei und mit dem Suhrkamp-Verlag deutsche Literaturgeschichte geschrieben. Aber ist der Abgang eines Autors aus einem Verlag, der ihm schon zu Lebzeiten durch immer neue Ausgaben hagiographische Kränze wand, nicht auch ein gutes, weil normales Zeichen von Beweglichkeit? Außerdem: zu was entblätterte sich die Ehrfurcht gebietende Suhrkamp-Kultur in diesem publizistischen Taifun? Weniger in dem Spektakel samt tränenreichen Trennungsbriefen als im Kleingedruckten scheint sich die eigentliche Morgendämmerung eines Mythos zu zeigen. Der legendäre intellektuelle Humus, ohne den das Land nicht gedeihen zu können glaubt, entpuppte sich zumindest im Falle Walser bei näherer Betrachtung als bilaterale Vereinbarung zweier Männer. Walser, so hatte er es mit Siegfried Unseld verabredet, kann die ganze Geisteserde, die er in Jahrzehnten unter den Schirm des Suhrkamp-Regenbogens häufte, auf den Komposthaufen bei Rowohlt verlagern. Der Nimbus der Geistesrepublik, die Intimität mit der globalen Geisteselite oder die Nachbarschaft zu einem Autor wie dem Auschwitz-Überlebenden und Nobelpreisträger Imre Kertesz, Autor des Roman eines Schicksallosen, scheint Walser nicht so unentbehrlich gewesen zu sein. Nun sucht sich der gekränkte, empathiesüchtige Friedenspreisträger neue Bewunderer.Für den Rowohlt-Verlag ist der Wechsel ein Gewinn. Mit dem erwartungsschürend angekündigten "neuen Walser" steht im Sommer ein Kassenknüller ins Haus. Der Wechsel ist aber auch ein Risiko. Wir lesen ja ungern aus dem braunen Kaffeesatz. Aber ganz gleichgültig kann es dem sonst so stilsicheren Verleger Alexander Fest nicht sein, dass sein Verlag nach der ominösen Studie von Lothar Machthan zu Hitlers angeblicher Homosexualität und dem missglückten Paradigmenwechsel des Jungautors Thor Kunkel in Sachen NS-Vergangenheit zum dritten Mal mit einem Autor Schlagzeilen machte, der seine Probleme mit deutschen Bewältigungstabus gern in Sonntagsreden öffentlich macht. Auf der anderen Seite hat die neue Suhrkamp-Verlegerin Ulla Berkéwicz vergangenen Herbst in der Frankfurter Paulskirche den Suhrkamp-Verlag zur "Bastion gegen Haß und Fanatismus, gegen Rassismus, Antisemitismus, gegen Menschenwahn" erklärt. Nicht, dass man etwas dagegen hätte, der Renaissance des rechten Mob und der Woge fundamentalistischen Terrors zu wehren. Doch eine Festung, wie sie Berkéwicz vorschwebt, signalisiert heruntergelassene Visiere. Verlage sollten aber eine Membran der Zivilgesellschaft sein. Am Vorabend der Leipziger Buchmesse, die einen Buchpreis zur Europäischen Verständigung vergibt, scheint sich im Walser-Wirbel mehr als nur die "Geometrie der Verlage" zu ändern, wie die FAZ mutmaßte. In der geistigen Polarisierung, die da aufscheint, könnte mehr untergehen als nur die Suhrkamp-Kultur.