FREITAG: Die IG BAU hat ein eigenes Rentenkonzept entwickelt. Werden Sie es nach der Annäherung zwischen Regierung und Gewerkschaften in der Rentenpolitik wieder in die Schublade stecken?
KLAUS WIESEHÜGEL: Keineswegs. Uns ging es nicht darum, nur für die gegenwärtige Situation eine Alternative zu entwickeln. Unser Konzept ist langfristig angelegt und will grundsätzlich das jetzige System solidarisch weiter entwickeln. Für ein universelles Rentensystem aber brauchen wir einen langen Atem - auch nach einem möglichen Kompromiss der am Montag eingesetzten Arbeitsgruppe von SPD und DGB.
Was verstehen Sie unter einem universellen Rentensystem?
Dass auf der einen Seite nicht nur alle Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, sondern auch Selbstständige, Beamte und politische Mandatsträger, zum Beispiel Parlamentarier, Beiträge zahlen müssen und auf der anderen Seite auf alle Einkommen - aus Gewinnen unternehmerischer Tätigkeit, etwa Erträgen aus Vermögen, Vermietung und Verpachtung - zur Beitragszahlung in die gesetzliche Rentenversicherung herangezogen werden.
Sie wollen, dass die gesamte Bevölkerung Beiträge in die Rentenversicherung einzahlt?
Ja. Jeder soll nach Vollendung des 16. Lebensjahrs mindestens 200 Mark im Monat zahlen. Wenn das Einkommen nicht reicht - bei Schülern, Studenten, Arbeitslosen zum Beispiel - sind auch staatliche Zuschüsse erforderlich. Bei diesem Konzept bleibt im Alter niemand ohne Versorgung; nach 44 Beitragsjahren ist die erforderliche Anwartschaft für eine volle Altersrente erfüllt. Darüber hinaus kann jeder selbst entscheiden, ob er länger oder kürzer arbeitet. Dann erhöhen beziehungsweise vermindern sich die Rentenzahlungen entsprechend. . Wir verbreitern mit unserem Modell die Finanzierungsbasis der gesetzlichen Rentenversicherung. Die Beiträge können sinken, und trotzdem ist es möglich, das heutige Rentenniveau zu halten. Das können alle anderen Modelle bisher nicht leisten.
Ihr Vorschlag enthält aber auch eine Kappungsgrenze, eine Höchstrente von 4.500 DM im Monat.
Das halten wir in einer solidarischen Rentenversicherung für unbedingt notwendig, angesichts der Umverteilung, die seit vielen Jahren in genau die entgegengesetzte Richtung führt. Im Übrigen haben wir diese Grenze so gewählt, dass davon ein normaler Arbeiter oder Angestellter kaum betroffen sein wird. Nur die Spitzenverdiener überschreiten diesen Betrag.
Mit der Kappungsgrenze heben Sie aber den direkten Bezug zwischen der Höhe der Beiträge und dem ausgezahlten Rentenbetrag auf. Ist Ihr Konzept damit nicht in sich widersprüchlich?
Ohne die Umverteilungskomponente als Bestandteil des Modells würden die Rentenbeiträge zu stark steigen. Unser Ansatz ist systemkonform - völlige Beitragsäquivalenz bietet kein Umlagesystem.
Instrumentalisieren Sie die Rentenpolitik für Umverteilungspläne, nachdem Sie sich in der Steuerpolitik nicht durchsetzen konnten?
Wir haben 1999 begonnen, unser Rentenkonzept auszuarbeiten, als der Ausgang der Steuerdebatte noch gar nicht klar war. Es ist also keine kurzfristige Antwort auf die gegenwärtige Diskussion. Aber zugegeben: Auch Rentenfragen sind Verteilungsfragen und damit Machtfragen. Die IG BAU wird es schwer haben, ihre Vorstellungen durchzusetzen. Mögliche Unterstützung sehe ich innerhalb der Parteien, auch in der SPD. Nicht bei der Regierung - das wäre gegenwärtig völlig illusionär -, aber an der Basis.
Und wenn Walter Riester an seinen Rentenplänen festhält und die im SPD-Ge werk schaftsrat eingesetzte Arbeitsgruppe nichts wesentlich ändern kann?
Die IG BAU kann nicht die Spitze der Bewegung in einem »heißen Herbst« sein. Da hat die IG Metall bessere Möglichkeiten: Sie organisiert Belegschaften in Großbetrieben, die für die Öffentlichkeit sichtbar zum Protest mit Transparenten und Trillerpfeifen vors Werkstor ziehen können. Wir dagegen haben Betriebe mit durchschnittlich acht bis neun Beschäftigten. Wo wir allerdings Großbetriebe organisieren, würden wir selbstverständlich eine Bewegung von IG Metall, ÖTV und hoffentlich sogar BCE unterstützen.
Ein Deal bleibt denkbar: Die Gewerkschaften stimmen dem Rentenkonzept der Regierung zu, dafür kommt die Koalition den Gewerkschaften bei der Neufassung des Betriebsverfassungsgesetzes und der Abschaffung willkürlich befristeter Arbeitsverhältnisse entgegen.
Davor kann ich nur warnen. Beides hat nichts miteinander zu tun. Es miteinander in Verbindung zu bringen, ist zwar übliches politisches Schachern, wäre aber verheerend.
Warum sollte es in diesem Fall anders zugehen als üblich?
Weil wir es verdammt bitter nötig haben, die Probleme der Altersversorgung längerfristig und nicht mit Flickschusterei zu lösen. Die Lösung kann nicht in einer Kombination verschiedener falscher Ansätze bestehen, wie bei dem Modell Riester. Einmal begonnen, werden sich die Reparaturen zu Lasten der Arbeitnehmer fortsetzen. Wir müssen auch bedenken: Die Entwicklung kann ganz anders verlaufen. Wer will heute sicher sein, wir hätten im Jahr 2030 tatsächlich die jetzt für die Planungen zugrunde gelegte Situation? Das wäre, als wenn heute jemand behaupten würde, er habe schon 1970 vorausgesehen, wie die Arbeitsmarktlage im Jahr 2000 sein würde und wie sich die Situation verändern würde durch die Einführung von Personalcomputern oder was auch immer.
Ihr Konzept verfolgt dabei aber weniger das Ziel, den Lebensstandard alter Menschen auch zu verbessern.
Wir wollen den Lebensstandard bei 70 Prozent des Netto-Einkommens belassen, weil wir eine breite Unterstützung der Bevölkerung brauchen. Wenn wir vorgeschlagen hätten, der Nettoverdienst müsse zu 100 Prozent fortgeschrieben werden, dann hätten auch uns Wohlgesonnene gefragt, ob die IG BAU verrückt geworden sei. Insoweit war unser Konzept ein Stück Verbeugung vor der Realität. Alle anderen Rentenkonzepte, die diskutiert werden, gehen aber davon aus, das Versorgungsniveau im Alter müsse gesenkt werden. Da liegen wir mit 70 Prozent auf einem fast schon träumerisch zu nennenden Niveau. Dies geht aber nur, wenn man alle Menschen zur Beitragszahlung heranzieht, jeder einzelne dann aber weniger zahlen muss als heute.
Und 70 Prozent reichen aus?
Wir haben versucht, uns vorzustellen, wie die Bevölkerung auf Vorschläge zur Veränderung des Rentensystems reagieren würde. Es gibt nur wenige Menschen, die den Satz unterschreiben würden: Die Rente muss für alle gleich sein, egal, welches Lebensschicksal sie hatten. Die meisten sind dafür: Es muss im Alter belohnt werden, wenn ich viel gearbeitet und viel eingezahlt habe. Aber viele Menschen sagen auch: Im Alter brauche ich nicht mehr so viel Geld, auch 70 Prozent können ausreichen. Ob es aber noch weniger sein kann, darüber ist eine politische Diskussion zu führen.
Wenn Sie auf jeden Fall einen Beitrag unter 20 Prozent festschreiben wollen, machen Sie sich indirekt die Propagandaformel zu hoher Lohnnebenkosten in Deutschland zu eigen. Sie lenkt davon ab, dass für die Produktion die Lohnstückkosten ausschlaggebend sind, also die wirklichen Lohnkosten jeweils in Bezug auf das einzelne Produkt, die in den vergangenen Jahren in Deutschland gesunken sind.
Das sind zwei unterschiedliche Dinge - zum einen die Lohnnebenkosten im Sinne von Belastungen. Auf der anderen Seite gibt es auch die Erfahrung, dass ein Arbeitnehmer weniger auf die prozentuale Beitragshöhe schaut, sondern darauf, was er wirklich netto von dem Geld ausgezahlt bekommt, das er brutto verdient hat. Wenn der Betrag zu niedrig ist, neigen einige dazu, sich aus der regulären Arbeit zu verabschieden. Wir wissen, dass etwa 15 Prozent des Bruttosozialproduktes auf dem grauen und schwarzen Markt erarbeitet werden. Deshalb müssen die Lohnnebenkosten stabil bleiben; da bin ich mit Walter Riester und vielen anderen einer Meinung. Es ist besser, wir senken sie - auch für die Akzeptanz eines Sozialversicherungssystems. Das geht aber nur bei Berücksichtigung von Umverteilungszielen, wie wir sie in unserem Konzept berücksichtigt haben.
Indirekt gesteht die IG BAU mit der Vorlage eines eigenen Rentenkonzeptes, dass sie langfristig die Hoffnung auf einen Abbau der Arbeitslosigkeit aufgegeben hat, die eigentlich Ursache für die Probleme der Rentenversicherung ist.
Wir haben die Hoffnung nicht aufgegeben. Aber gegenwärtig sehen wir keine Politik gegen Arbeitslosigkeit. Mehr Arbeitsplätze wären nur möglich, wenn in Bereiche investiert würde, die sich an den Menschen und deren Bedarf orientieren statt an der Steigerung von Renditen. Und in der Regierungspolitik genießt nach wie vor »Sparen« Priorität mit der Folge sinkender Investitionen und verfallender öffentlicher Infrastruktur. Doch nur das Gegenteil würde Arbeitsplätze schaffen. Wir bedauern diese Situation, können deshalb aber nicht alles verloren geben, sondern müssen zumindest sozialpolitisch gegensteuern.
Inwieweit hat bei der Vorlage Ihres Rentenkonzepts die Leidensfähigkeit des SPD-Bundestagsabgeordneten Wiesehügel eine Rolle gespielt, der sich in seiner Fraktion nicht durchsetzen konnte und deshalb einen Umweg über die IG BAU nehmen musste?
In der Abstimmung bin ich unterlegen. Wenn es zur parlamentarischen Abstimmung kommen wird, bin ich selbstverständlich Angehöriger meiner Fraktion. Doch in erster Linie bin ich Vorsitzender der IG BAU, und als solcher werde ich nicht müde werden, unsere Ideen zu vertreten. Es gibt mitunter Verschiebungen zwischen beiden Funktionen, spätestens dort, wo ich auch in der Partei agiere. Aber diese Vermischungen sind in Ordnung. Das machen andere Interessenvertretungsgruppen innerhalb der Partei auch.
Hat die SPD-Bundestagsfraktion den BAU-Vorsitzenden schon eingeladen, sein Modell vorzustellen?
Noch nicht. Doch wenn ich in der Fraktion länger als die übliche Redezeit das Modell vorstellen kann, werde ich einer Einladung gerne nachkommen.
Die übliche Redezeit beträgt...
Fünf Minuten.
Das Gespräch führte Friedrich Siekmeier
Klaus Wiesehügel steht seit November 1995 an der Spitze der IG BAU (Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt), mit 550.000 Mitgliedern die viertgrößte Gewerkschaft innerhalb des DGB. Der 47jährige ehemalige Betonbauer aus Mülheim/Ruhr kam 1991 in den Bundesvorstand seiner Organisation. Ansehen errang er sich vor allem, als er eine Demonstration von 130.000 Bauarbeitern in Bonn organisierte, die sich gegen die Abschaffung des Schlechtwettergeldes zur Wehr setzten. Seit 1998 ist Wiesehügel Bundestagsabgeordneter und Mitglied des Wirtschaftsausschusses der SPD.
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