An diesem Freitag scheitert Andrea Fischers Gesundheitsreform im Bundesrat. Die unionsregierten Bundesländer folgen der kürzlich festgelegten Strategie, dort in der Länderkammer die gesundheits- und rentenpolitischen Reformversuche der Bundesregierung zu blockieren. Es wird also auch im Vermittlungsausschuss zu keiner Einigung kommen. Die Frage ist, will Andrea Fischer anschließend mit den Unionsparteien ohne Vorbedingung verhandeln, was dazu führen würde, dass kein Reformgesetz zum 1. Januar 2000 in Kraft tritt? Denn der Union liegt an einer gemütlichen Verhandlung möglichst bis in den schleswig-holsteinischen und nordrhein-westfälischen Wahlkampf hinein. Oder schnürt die Bundesregierung das Reformpaket auf und lässt den Teil, der im
im Bundesrat nicht zustimmungspflichtig ist, im Bundestag nochmals abstimmen? Darauf deutet alles hin. Aber dann geht der Kern ihrer Reformidee, das Globalbudget, verloren. Eins ist sicher, der Streit um den Weg zur Kostendämpfung im Gesundheitssystem wird neu eröffnet. In Deutschland wurden 1996 10,4 Prozent des Bruttoinlandprodukts für Gesundheitsleistungen ausgegeben. In den Niederlanden nur 8,5 Prozent. Dabei sind Deutsche nicht erkennbar gesünder als Holländer. Was tun? Im Streit der letzten Wochen standen sich zuletzt nur zwei Positionen gegenüber.Nach dem Modell des Gesundheitsministeriums soll die Kostendämpfung ohne Mehrbelastung der Versicherungspflichtigen erreicht werden. Also kein höherer Versicherungsbeitrag, keine weiteren Privatzuschüsse zu einzelnen Leistungen. Statt dessen werden die Ärzte belangt: die Regierung legt das Globalbudget fest, die Krankenkassen verteilen es, die Ärzte konkurrieren um Budgetanteile, ihre Honorare können nicht mehr beliebig steigen. Ebenso werden die Investitionen der Krankenhäuser, bisher von den Länderregierungen verantwortet, dem Regime der Kassen übergeben. Die Idee klingt gut, ist aber doch problematisch. Eine Budgetierung kann eine gute Sache sein, wenn sie von einer qualitativen Zielsetzung ausgeht, etwa: dies und jenes halten wir aus guten Gründen, die wir nennen, für gesundheitserforderlich; daraus folgt eine Quantitätsgrenze der Kosten; zuletzt fragt man, ob die Kosten denn aufgebracht werden können. Aber so läuft es nicht. Das Budget orientiert sich am Ziel der Beitragsstabilität, das mit Inhalten von Gesundheitspolitik gar nichts zu tun hat. Deshalb die abstrakte Idee, im Jahr 2000 sollten die Gesundheitskosten möglichst wenig, nämlich nur 2,8 Prozent über denen des Jahres 1998 liegen. Der Effekt ist, die Entwicklung der Gesundheitskosten wird an die Entwicklung der Arbeitslosigkeit gekoppelt: wenn zum Beispiel die Versicherungsbeiträge stabil bleiben und die Anzahl der Beschäftigten, damit der Versicherten sinkt, sinkt auch das Budget.Das Gegenmodell vertreten mehr oder weniger identisch die Ärztevereinigungen, die Unionsparteien und eine "Reformkommission Soziale Marktwirtschaft", der auch Bundestagsabgeordnete angehören, Merz von der CDU, Mosdorf von der SPD und Metzger von den Grünen. Es läuft immer auf die Sozialversicherung, die nur noch "Grundsicherung" für eine "Basisversorgung" sein will, hinaus. Wer mehr erwartet, soll zusätzlich eine Privatversicherung abschließen oder einfach pro Leistung zahlen. Das Argument lautet, es ginge darum, mit der "Vollkaskomentalität" der Versicherten zu brechen: mehr Selbstbeteiligung mache ihnen erst bewusst, was die Ware Gesundheit kostet, ihre Nachfrage könne sich dann auf das gesundheitlich Nötige beschränken. Auch diese Idee ist nicht ganz unplausibel. Zweifellos gibt es Arztbesuche von Menschen, denen eigentlich nichts fehlt. Außerdem geht die Bundesregierung selbst mit Grundsicherungsmodellen schwanger. Sie will offenbar das Rentenproblem so lösen, warum dann nicht auch das Gesundheitsproblem? Zumal die beiden Probleme identisch scheinen: immer weniger Beschäftigte kommen für immer mehr Rentner auf, deren Lebenserwartung immer mehr steigt - und die im Maß, wie sie älter werden, immer mehr Gesundheitsleistungen konsumieren. Doch auch diese Idee hat Grenzen. Wer sagt denn, dass die Gesundheitskosten wegen unnötiger Arztbesuche explodieren? Sie werden vielmehr hauptsächlich durch den Fortschritt der Apparate-Medizin in die Höhe getrieben. Das ist ein Faktor der gesundheitspolitischen Situation, dem in der Rentenpolitik nichts entspricht.An dem Problem, dass vor allem die Kosten der Apparate amortisiert werden müssen, schauen beide Modelle vorbei. Je mehr teure Apparate der Arzt einsetzt, desto höher ist das Honorar, das er abrechnen kann. Daran würde auch ein Globalbudget nichts ändern. Wer von diesem Kuchen ein großes Stück abschneiden will, wird möglichst teure Apparate einsetzen. Es ist gewiss nicht leicht, das Problem zu lösen, das die Apparate aufwerfen, denn während einige überflüssig sind, werden andere zum Segen der Kranken erfunden, bei wieder anderen ist der Sinn zweifelhaft. Wer zieht die Trennlinie? Immerhin ist die Überflüssigkeit mancher Apparat-Einsätze ganz offenkundig. Ich gehe zum Augenarzt, der mir eine Brille verschreiben soll, und lasse eine Maschine über mich ergehen, die mit ihrem Tastarm meine Pupille berührt. Eine Begegnung der dritten Art! Anschließend werde ich gelobt, meine Augen säßen doch ganz erstaunlich fest in den Augenhöhlen. Zwar könnten die Krankenkassen den Apparate-Schnickschnack verhindern oder wenigstens eindämmen. Sie vergeben ja die Ärztehonorare. Sie könnten den Sinn einer Behandlung prüfen. Aber was soll ihr Antrieb sein, so etwas zu tun? Da ihre Handlungsweise keiner politischen Logik folgt, kann man nicht erwarten, dass sie sich für die Lösung von Sinnfragen interessieren.Darin, dass diese Fragen unbeantwortet bleiben, besteht das Problem. Die Bundesregierung und ihre Kritiker ziehen letztlich am selben Strang gesundheitspolitischer Deregulierung. So wollte Andrea Fischer den Bundesländern die Verantwortung für Krankenhaus-Investitionen entziehen. Warum? Weil die landespolitischen Entscheidungen nichts gebracht haben? Wenn das so ist, muss man nicht gleich mit Entpolitisierung reagieren. Vielleicht sind ja andere politische Formen möglich. Vor allem müssten die medizintechnischen Fragen politisiert werden. Das ganze Streitszenario, das wir erleben, führt in die Irre: die Bundesregierung macht die Ärzte haftbar, ihre Kritiker verlangen mehr Geld von den Patienten, aber beide Seiten lassen die Apparate-Industrie in Frieden. Die deutsche Medizintechnik erwirtschaftete 1998 einen Umsatz von 18,5 Milliarden DM, sechs Prozent mehr als im Vorjahr. Im Ausland waren es 14 Prozent mehr. Beim Außenhandels überschuss gab es mit 3,7 Milliarden DM einen neuen Rekord. Das boomt, wer wollte da stören? Und doch hätte Politik hier ihre Aufgabe. Es ist immer dasselbe Lied. Die Industrie befriedigt angeblich nur die Nachfrage auf dem freien Markt. In Wahrheit drückt sie ihr Angebot einem Markt auf, der es so gar nicht wollte. Ihr technischer Fortschritt folgt oft keinem anderen Ziel als der Profitmaximierung. Wenn sich atomisierte Marktteilnehmer - Patienten, die um ihre Gesundheit, Ärzte, die um ihre Arztpraxis kämpfen - gegen den Marktselbstlauf nicht wehren können, müsste Politik in Aktion treten. Zielsetzung ist schließlich nach Auskunft der Soziologen ihre Funktion. Warum wird keine öffentliche Debatte um das gesundheitlich Nötige und Unnötige angestoßen? Wenn es da zu Klärungen käme, hätte die Regierung anschließend, das wäre doch kein Neuland mehr, einen Auftrag für "Konsensgespräche" mit der Gesundheitsindustrie.Frau Fischers Globalbudget wird also zu den Akten gelegt. Sie braucht nicht traurig zu sein. Sie könnte überlegen, was denn eine spezifisch grüne Gesundheitspolitik wäre. Bisher war ihre Politik nur sozialdemokratisch: Beitragsstabilität der Versicherten, Unantastbarkeit der Interessen des medizinisch-industriellen Komplexes. Auf dieser Basis war es kein Wunder, dass Rudolf Dreßler sich immerzu für den heimlichen Gesundheitsminister hielt. Frau Fischer wird doch wissen, weshalb der Kanzler ihr und nicht Herrn Dreßler das Ministerium überließ: weil Schröder, obwohl SPD-Mitglied, selbst gar keine sozialdemokratische Gesundheitspolitik will. Eine von Bodo Hombach eingesetzte Arbeitsgruppe des Kanzleramts hat längst Vorschläge erarbeitet und im Spiegel 19/1999 veröffentlicht, die nicht denen Fischers und Dreßlers, sondern denen der "Reformkommission Soziale Marktwirtschaft" ähneln. Schröder wird sie vermutlich bald präsentieren, um eine Einigung mit dem Bundesrat herbeizuführen, und dann muss Andrea Fischer sich entscheiden, ob sie grüne Politik machen oder sich wie ihr Parteifreund Metzger verhalten will.
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